Nixenfluch
herziehen. Die Leute vertrauen Conor. Wenn er sagt, dass er etwas tut, dann kann man sich darauf verlassen.
Ich habe schon viel zu viel Zeit meines Lebens damit verbracht, so sein zu wollen wie Conor. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich stets so einen Blick in Mums Augen gesehen habe, der mir sagte: Wie schade, dass du nicht mehr wie dein Bruder bist. Aber es ist nicht nur das. Conor besitzt Qualitäten, die sich jeder wünscht.
»Lange Zeit war ich mir nicht sicher«, fährt Faro nachdenklich fort. »Bei Sapphire war ich mir vom ersten Tag an sicher. Aber nicht bei dir. Selbst als du zu den Seelöwen gesungen und die Inschrift auf dem Schlussstein gelesen hast, war ich mir nicht sicher. Doch jetzt hat Indigo dich dafür belohnt, was du in der Tiefe getan hast. Es hat dir ein Zeichen gesandt, dass du hierher gehörst.«
Conor runzelt die Stirn. Er mag es ganz und gar nicht, wenn andere Leute ihm erzählen, was er zu tun hat oder wo er hingehört. »Wir sind keine Sklaven«, entgegnet er. Wir gehören weder hierhin noch dorthin.«
Doch, Conor, das tun wir , denke ich, aber ich will jetzt keinen neuen Streit entfachen. Auch Faro will anscheinend nicht streiten, doch diesmal liegt es nicht daran, dass er die schlechteren Argumente hätte.
*
Die Menschenwelt kommt näher. Wir tauchen nacheinander unter zwei roten Bojen hindurch. Sie markieren die Hummerfangkörbe.
»Wir können nicht mehr weit von der Bucht entfernt sein«, sagt Conor.
»Stimmt.«
Plötzlich muss ich an Sadie denken. Es ist nicht diese vage Erinnerung, bei der alles wie hinter einem Nebelschleier verborgen liegt. So ist es sonst immer, wenn ich in Indigo an die Erde und die Luft denke. Nein, diese Erinnerung ist sehr lebendig und wird von tiefen Gefühlen begleitet. Eine unbändige Freude befällt mich, wenn ich mir vorstelle, wie ich meine Arme um Sadies warmen Hals lege, während sie fiepend versucht, mir das Gesicht abzulecken. Es ist dieselbe Freude, die einen erfüllt, wenn man morgens an seinem eigenen Geburtstag erwacht. Und Mum …
Doch mit dem Gedanken an Mum und Roger werden auch die alten Probleme wieder lebendig. Ich wünschte, ich müsste nicht ständig Dinge vor ihnen geheim halten. Die Hälfte meines Lebens halte ich vor Mum geheim. Außerdem habe ich das schreckliche Gefühl, dass Mum auch etwas vor mir verbirgt. Sie vertraut mir nicht richtig, jedenfalls nicht so, wie sie Conor vertraut.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass du mir entgleitest, Sapphy. Das hat Mum vor einer guten Woche zu mir gesagt. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich hätte sagen können: Manchmal denke ich dasselbe von dir , aber das hätte Mum zu sehr verletzt. Ich wünschte, sie könnte dasselbe sagen, was der Wal gesagt hat: Du gefällst mir. Natürlich weiß ich, dass Mum mich liebt. Das Problem ist nur, dass es so vieles an mir gibt, das sie verändern oder verbessern möchte.
Ich habe Schmerzen in der Brust. Der Schmerz wandert nach unten und schließt sich um meine Rippen. Du bist immer noch in Indigo , sage ich mir. Du darfst nicht zu sehr an die Menschenwelt denken. Indigo ist wild und gefährlich und kann dich umbringen, aber es verletzt dich nicht so, wie die Menschenwelt dich verletzen kann.
Faro schwimmt dicht an mich heran. »Du verlässt mich wieder, kleine Schwester«, murmelt er. »Du kommst und gehst, kommst und gehst. Wann begreifst du endlich, dass du nicht in zwei Welten leben kannst?«
»Aber ich muss, Faro. Ich habe doch keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl. Du hast deine nur noch nicht getroffen.«
Ich bin jetzt zu müde, um darüber nachzudenken. Faro weiß nicht, was für ein Gefühl es ist, sich zur Menschenwelt und zu Indigo zugehörig zu fühlen. Er hat sich entschieden, die Tatsache zu ignorieren, dass auch er menschliches Blut in sich trägt. Er empfindet das als Beleidigung. Aber das sollte er nicht. Ich finde, man muss sich so akzeptieren, wie man ist, anstatt so zu tun, als sei man jemand anders.
In gewisser Weise werde ich immer mehr zu einer Mer – ich weiß das. Ich musste mir nicht die geringste Mühe geben, um den Wal zu verstehen. Ich verstand sie einfach. Doch zugleich bin ich nicht mehr so verzweifelt darauf aus, aus der Menschenwelt zu fliehen, wie ich es unmittelbar nach Dads Verschwinden war. Damals kam mir unser Zuhause so leer vor, doch inzwischen ist es wieder von Leben erfüllt.
Außerdem gibt es ja noch Sadie. Niemand kann sich einsam fühlen, wenn man von einem Hund so
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