Nixenfluch
erklommen haben. Aber ich denke angestrengt nach. Möwen sehen alles. Sie wissen, was in der Menschenwelt vor sich geht. Sie sind gute Boten. Falls sie auf Ervys’ Seite sind … falls sie ihm verraten, wo wir sind und was wir tun …
Vielleicht wollte die Möwe mir etwas mitteilen. Wir wissen, wo du bist. Wir können dich immer noch finden, selbst wenn du nicht in Indigo bist. Glaub ja nicht, dass Ervys dich vergessen hat.
Ich schaudere, sehe immer noch Ervys’ hasserfülltes Gesicht vor mir. Es ist die Art von Hass, die auch im Lauf von Jahren nicht schwächer wird. Meine Hand brennt von der Wunde, die mir die Möwe zugefügt hat, und vom Salzwasser, mit dem ich sie ausgewaschen habe.
»Gleich sind wir zu Hause«, sagt Conor tröstend, als wäre ich nicht zwei, sondern fünf Jahre jünger als er.
»Ja, ja, alles okay.«
Conor legt mir den Arm um die Schultern, und plötzlich bin ich sehr froh über seine Hilfe. »Dafür, dass alles okay ist, bist du aber ziemlich blass um die Nase, Saph. Wir sollten uns um deine Hand kümmern, ehe Mum sie sieht.«
Einundzwanzigstes Kapitel
A us dem Barbecue gestern Abend ist nichts geworden. Als Conor und ich nach Hause kamen, war es zwar schon weit nach achtzehn Uhr, doch Mum hatte sich ebenfalls verspätet, was uns Gelegenheit gab, meine Hand noch mal mit Desinfektionsmittel zu reinigen. Ich hatte die verrückte Idee, dass Ervys die Krallen der Möwe mit Gift präpariert haben könnte. Conor fand ein Pflaster, das groß genug war, um meine halbe Hand zu bedecken. Glücklicherweise akzeptierte Mum meine Erklärung, ich hätte sie mir an einer Brombeerranke aufgerissen.
Mum brachte nicht einmal unseren Super-Aussi ins Spiel. Sie fragte uns nur, ob wir einen schönen Tag gehabt hätten, und nach kurzem Zögern antworteten wir mit ja.
Mum schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Sie sah uns fortwährend an, als wollte sie uns etwas mitteilen, bevor sie hastig den Wasserkessel füllte oder die Wäsche zusammenlegte. Ich machte ein großes Omelette und Pommes für jeden von uns. Roger kam so spät nach Hause, dass seine Portion, die wir im Ofen warm gehalten hatten, völlig vertrocknet war, doch Mum war ihm nicht böse. Sie machte immer noch einen zerstreuten Eindruck.
Als ich den Tisch abwischte, hörte ich etwas, das ich lieber nicht gehört hätte. Die Tür zwischen Küche und Wohnzimmer stand offen.
»Konntest du schon mit ihnen reden, Jennie?« Rogers Stimme.
»Nein, es war einfach nicht der richtige Moment. Sie waren den ganzen Tag draußen, und Sapphy sieht so erschöpft aus.«
Ich klapperte mit einer Pfanne, worauf sie sofort still waren. Ich wollte weder mehr hören noch darüber nachdenken, was »mit ihnen reden« bedeuten könnte. Ich war auch nicht in Stimmung, jetzt mit Conor darüber zu sprechen. Er könnte ja denselben Verdacht hegen wie ich.
Ich war so müde, dass ich noch vor acht Uhr ins Bett ging. Conor war bereits nach oben verschwunden. Ich träumte nicht und bewegte mich nicht und erwachte heute Morgen erst gegen neun Uhr.
*
Also wird heute gegrillt. Mum will früh von der Arbeit zurückkommen, und Roger hat in seiner typischen Effektivität gleich heute Morgen alle Zutaten in St. Pirans bestellt. Es sollen nämlich nicht nur Würstchen gegrillt, sondern die verschiedensten Dinge zubereitet werden, wie in einem Restaurant. Ich habe ihn gefragt, ob ich ihm helfen soll, doch er antwortete nur: »Lass nur, ich mach das schon.«
Ich kann mich nicht erinnern, je so einen öden Tag verbracht zu haben. Ich bin spät aufgestanden, mit einem Becher Tee auf und ab gegangen, habe die Frühlingssonne am Horizont glitzern sehen, konnte mich aber zu nichts aufraffen. Conor stand erst um zwei Uhr auf. Wahrscheinlich sind das die Nachwirkungen unseres Abenteuers in der Tiefe, die sich erst jetzt, da wir in Sicherheit sind, bemerkbar machen.
Immer wieder blitzten die Bilder des Kraken in seinen verschiedenen Gestalten oder des kämpfenden Wals durch meinen Kopf. Sie sahen so real aus, dass ich das Gefühl hatte, alles noch einmal zu erleben. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass alles vorbei ist. Der Krake schläft und kann uns nichts mehr anhaben. Ervys ist in Indigo, weit von hier entfernt. Ich muss noch mal über ihn nachdenken, aber nicht jetzt.
Mich wärmte die Sonne an meinem geschützten Platz. Sadie ließ sich auf meinen Füßen nieder, rollte sich zusammen und schloss die Augen. Die Schwere und Wärme ihres Körpers waren so angenehm,
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