Nixenjagd
der niedrigen Temperatur in der Kapelle an ein Suppenhuhn erinnerte. Fast alle Lehrer und der Direktor waren gekommen, sowie etliche Eltern. Auch Frauke Saalberg, Franziskas Mutter, hatte sich freigenommen und ihre Tochter begleitet. Katrins Eltern waren zwei hohläugige Gespenster. Was mochte in ihnen vorgehen? Wie würden sie mit dem Tod ihrer Tochter zurechtkommen? War nicht auch ihr Leben so gut wie zerstört? An der Hand von Frau Pankau zerrte Katrins siebenjähriger Bruder. Franziska hatte seinen Namen vergessen, weil Katrin ihn immer nur den »Satansbraten« genannt hatte. Sie hatte sich regelmäßig über ihn beklagt. »Holt doch mal die Super-Nanny«, hatte Franziska geraten und Katrin hatte geantwortet: »Für den reicht keine Nanny, der braucht einen Exorzisten.« Daran musste Franziska nun denken, während sich die Trauergemeinde dem Sarg hinterher durch die Gräber schlängelte. Sie kicherte. Postwendend fuhr ihr der spitze Ellbogen ihrer Mutter zwischen die Rippen. Franziska hatte bis jetzt nur die Beerdigung ihrer Großmutter erlebt und die von Katrin unterschied sich hinsichtlich des Ablaufs und der Äußerlichkeiten nicht wesentlich davon. Ein steifer Akt, zugeschnitten auf alte Menschen. Als der Sarg zwischen grünem Filz, der die nackten Erdwände der Grube schamhaft bedeckte, hinabgelassen wurde, wünschte sich Franziska weit fort. Egal, wohin, nur hier wollte sie nicht sein, wo ihre Freundin in einer hässlichen Holzkiste, unter sterbenden Pflanzen lag. Nachdem der Pfarrer seine rituellen Handlungen beendet hatte, wurden Blumen und Erde auf den Sarg geworfen. Das Geräusch, mit dem die Erdbrocken auf dem Holz aufschlugen, ging Franziska durch Mark und Bein. Sie ließ die mitgebrachte Rose aus dem Garten auf den Sargdeckel fallen, und als dabei die Vorstellung, dass Katrin da unten lag, zur Gewissheit wurde, schnürte es ihr die Kehle zu. Die dargebotene kleine Schaufel ignorierte sie. Sollte sie ihre tote Freundin etwa noch mit Dreck bewerfen? Schlimm genug, dass sie sich zuletzt angefeindet hatten – auch wenn das letztendlich keinen Unterschied mehr machte. Katrin hätte ihr sicher längst verziehen. Sie konnte ein Aas sein, aber nachtragend war sie nie gewesen. Plopp. Wieder krachte eine Schaufel Erde auf den Sarg. Wie hielten Katrins Eltern diese makabre Prozedur bloß aus? Franziska und ihre Mutter drückten dem trauernden Elternpaar die eiskalten Hände und murmelten: »Herzliches Beileid.« Dann entfernten sie sich schnell, als wäre Leid ansteckend. Frauke Saalberg blieb vor einer Zypresse stehen und atmete tief durch. »Schrecklich«, stellte sie erschaudernd fest. Dann strich sie energisch ihre dunklen Haare zurück, so wie sie es immer als Zeichen eines Entschlusses tat. Jetzt hatte sie offenbar beschlossen, dass das normale Leben weitergehen musste. »Zeig mir doch mal den Jungen, mit dem du morgen ins Kino gehst«, sagte sie in bemüht munterem Ton zu Franziska. »Welchen Jungen denn? Ich geh mit ein paar Leuten aus der Klasse...« »Du willst mich wohl für dumm verkaufen? Ich will ihn ja nur mal sehen.« »Der große im Anzug«, sagte Franziska müde. Ihr fehlte im Augenblick die Kraft für ein Scharmützel mit ihrer Mutter. »Der blonde mit dem breiten Kreuz?« »Nein, das ist Robert aus der Elften. Der weiter hinten, mit den braunen Haaren. Aber schau bitte nicht so auffällig hin. Bitte!«, flehte Franziska. Vergebens. Wie ein Rind starrte ihre Mutter zu Paul hinüber. Franziska boxte sie gegen den Oberarm, aber es war zu spät. Schon nickte Paul ihrer Mutter höflich zu und die hob charmant die Hand und lächelte zurück. »Ein hübscher Kerl«, urteilte sie ungefragt. Franziska stöhnte. Ihre Mutter konnte manchmal so dermaßen peinlich sein! »Los, weg hier«, flüsterte sie und setzte sich in Bewegung. Als sie sich nach ihrer Mutter umwandte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die am Rand der Schülergruppe zwischen den Thujen stand. Es war die Kommissarin. Auch sie hatte Paul im Visier.
1 8
Oberkommissarin Petra Gerres hatte die Trauerfeier und die Beisetzung aufmerksam verfolgt. Weniger den feierlichen Akt, sondern mehr das Drumherum: die Schüler, die in ihrer ungewohnten Kleidung deplatziert wirkten, die ernsten Lehrergesichter und die Eltern des Mädchens, für die das alles wohl schwer durchzustehen war. Unsere Gesellschaft hat nie gelernt, mit dem Tod in Würde und Gelassenheit umzugehen, dachte Petra, die sich mit der Bestattungskultur hierzulande noch nie hatte
Weitere Kostenlose Bücher