Nixenjagd
bezahlte Stelle an der Tierärztlichen Hochschule gefunden. Besser als in der Praxis, in der sie vorher war. Jetzt arbeitet sie dort in einem Labor.« Die Frage nach Tierversuchen stand im Raum, aber Franziska verkniff sie sich. »Tierärztin«, wiederholte sie. »Das war auch mal einer meiner Traumberufe.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Weiß nicht«, antwortete Franziska. »Und du? Weißt du schon, was du mal machen willst?« »Vielleicht Medizin studieren. Wenn die Noten dafür ausreichen.« Franziska lächelte. Sie musste sich zwingen, Paul nicht zu oft anzusehen, und ihn vor allen Dingen nicht anzustrahlen wie ein Honigkuchenpferd. Sie ließ ihren Blick nach draußen schweifen. Familien und Jugendliche strebten zu den Kinokassen oder standen rauchend vor dem Eingang. Plötzlich war ihr, als würde sie jemand anstarren, ein vage bekanntes Gesicht, das sie auf Anhieb nicht einordnen konnte. Doch im nächsten Moment schob sich ein breiter Rücken in einem Holzfällerhemd ganz nah vor die Scheibe. Der Mann zündete sich umständlich eine Zigarette an. Als die Sicht wieder frei war, spähte Franziska angestrengt durch das spiegelnde Glas, aber sie entdeckte niemanden, den sie kannte. Ich muss es mir eingebildet haben, dachte sie. Vielleicht war es mein eigenes Spiegelbild, das ich gesehen habe. Sie konzentrierte sich wieder auf Paul. »Wollen wir reingehen?«, fragte der gerade. Franziska nickte und leerte ihre Cola. Sie standen auf. Die Gestalt, die in einiger Entfernung regungslos dastand, starrte noch immer zu ihnen hinüber. Doch das bemerkten sie nicht.
Paul machte während des Films keinerlei physischen Annäherungsversuche, was Franziska auch nicht erwartet hatte. Nein, so kindisch war Paul nicht. Dennoch entstand im Verlauf der Vorstellung eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen. Sie aßen zusammen einen ganzen Eimer Popcorn und lachten einträchtig an denselben Stellen. Es war das erste Mal, fiel Franziska auf, dass sie Paul lachen sah – oder vielmehr hörte.
Erst als der Film zu Ende war und die Menge zum Ausgang drängelte, nahm Paul ihre Hand. Die Geste hatte etwas Selbstverständliches. Blinzelnd standen sie im Freien, als Paul ihre Hand plötzlich wieder losließ. Oliver stand in der Schlange für die Abendvorstellung, zusammen mit zwei Freunden, die Franziska vom Sehen kannte. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich an, dann senkte Franziska den Blick. Obwohl dafür keinerlei Grund bestand, fühlte sie sich auf einmal, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Als sie wieder aufblickte, wandte Oliver ihr den Rücken zu und war ganz in die Unterhaltung mit seinen Freunden vertieft. Paul setzte sich in Bewegung und Franziska folgte ihm. Auf dem Weg zum Bahnhof fragte sie sich, warum sie Oliver nicht einfach ganz normal gegrüßt hatte.
2 1
Pauls Verhalten in der folgenden Woche in der Schule war irritierend. Es schien ihm nichts auszumachen, sich im Klassenraum mit Franziska zu unterhalten, auch wenn andere zuhörten. Er ließ sich von ihr beraten, welches Thema er für die Deutsch-Hausarbeit im nächsten Schuljahr wählen sollte – die Schüler sollten sich jetzt schon entscheiden, um das Buch über die Ferien lesen zu können. »Damit ihr nicht verblödet. Ihr wisst ja, der Verstand beginnt schon nach zwei Wochen Faulenzerei einzurosten«, bemerkte Frau Holze-Stöcklein augenzwinkernd. Paul hatte Franziska um ihre E-Mail-Adresse gebeten und ab und zu stellte er ihr eine Frage zu den Hausaufgaben. Einmal chatteten sie.
< Was machst du gerade? >
< Nix besonderes >
< Mathe nervt zur Zeit tierisch >
Der Dialog erlangte kein wesentlich höheres Niveau und sie mussten sich eingestehen, dass sie keine besonders talentierten Chatter waren. In den Pausen sonderte sich Paul von den anderen ab, umgeben von einer Aura der Unnahbarkeit, die ihn in den Augen der Mädchen noch attraktiver machte. Jedenfalls schwänzelten Silke, Ute und Ann-Marie auffallend oft in seiner Nähe herum. Sprach man ihn an, reagierte er einsilbig. Allenfalls die Gesellschaft seiner Schwester nahm er duldend in Kauf. Vielleicht benutzte er sie auch nur, um sich die anderen Mädchen vom Hals zu halten, dachte Franziska. Manchmal bedauerte sie es, ein Einzelkind zu sein. Mit einem älteren Bruder könnte sie sich über Paul unterhalten, sich Ratschläge aus männlicher Sicht einholen. Die einzige Vertraute, die sie bis jetzt gehabt hatte – wenn auch nicht gerade in Sachen Paul – war tot. Sie dachte oft an Katrin.
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