Nixenmagier
Teile des Schlusssteins zu finden, was ein schwieriges und anstrengendes Unterfangen ist. Ich muss mich noch ein wenig ausruhen, doch Elvira, Conor und Faro arbeiten unermüdlich. Ein Fundstück nach dem anderen bringen wir zum verschütteten Eingang der Höhle. Bei manchen handelt es sich nur um Splitter, die so scharf sind, dass sie unsere Finger bis zu den Knochen aufschlitzen könnten, falls wir nicht aufpassen. Andere Gesteinsbrocken
sind so schwer, dass wir sie zu zweit oder zu dritt durch den Sand ziehen müssen. Jeder Brocken des Schlusssteins ist massiv und schwer, weitaus schwerer als jeder Stein an Land. Gemeinsam ergeben sie ein dreidimensionales Puzzle. Kaum vorstellbar, dass es uns gelingen sollte, den Schlussstein je wieder zusammenzusetzen.
Doch Puzzeln war schon immer ein Hobby von Conor. Als wir ungefähr dreißig Stücke beisammen haben, nimmt er sie näher in Augenschein, schwimmt um sie herum, um sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
»Siehst du irgendeine Ordnung?«, fragt Faro, der ihm über die Schulter blickt.
»Schau dir diese beiden Stücke an. Die gehören zusammen. Wenn man diesen Splitter dort in die Lücke steckt …«
Faro zuckt die Schultern. »Da siehst du mehr als ich, Bruder. Am besten, du bleibst hier, während wir weitersuchen.«
Elvira bringt drei scharfkantige Gesteinsbrocken. »Wir müssen schneller arbeiten«, sagt sie mit angespannter Stimme. Conor blickt zu ihr auf.
»Wovor hast du Angst, Elvira? Die Flut ist doch schon vorüber.«
»Spürst du es nicht? Die Gezeiten sind völlig außer Kontrolle geraten. Sie reißen Indigo entzwei und werden uns alle vernichten.«
»Und Indigo ist alles, was zählt, oder? Warum soll ich den Schlussstein überhaupt zusammenfügen? Indigo hat meine Welt überflutet, und ihr wart froh darüber, nicht wahr?«
»Nein, Conor! Glaub mir, ich war überhaupt nicht froh darüber. Ich bin eine Heilerin. Weißt du, was das bedeutet? «
»Eine angehende Heilerin«, schaltet Faro sich ein. Elvira ignoriert ihn.
»Wie kann ich eine Heilerin und gleichzeitig froh sein, dass überall Tod, Verderben und Angst herrschen?«
Conor sieht ihr ins Gesicht. »Ich glaube dir, Elvira«, sagt er sanft. »Aber erzähl mir nicht, dass alle in Indigo so sind wie du.«
Erschöpft stoße ich mich vom Meeresgrund ab und beteilige mich weiter an der zähen Suche. Ich kann das Puzzle nicht zusammensetzen. Ich habe die Schrift nicht einmal gesehen, als der Stein noch ganz war. Doch vielleicht finde ich ja noch einen Splitter im Sand …
Schließlich müssen wir die Suche einstellen. Vielleicht gibt es noch Bruchstücke des Schlusssteins, die unauffindbar sind, doch haben wir akribisch den Sand durchkämmt, im Seegras gewühlt, Felsblöcke emporgestemmt und jeden Stein umgedreht. Unsere Hände sind blau und zerschunden. Alle Bestandteile des Schlusssteins – jeden noch so kleinen Splitter, den wir finden konnten – haben wir zusammengetragen. Conor ist immer noch bei der Arbeit und langsam entsteht eine bestimmte Form. Doch natürlich halten die Teile nicht zusammen, auch wenn Conor herausbekommt, wie sie zusammenpassen. Ein dreidimensionales Puzzle lässt sich schließlich nicht auf dem flachen Sand vollenden.
»Ich werde die Teile nie richtig zusammensetzen können«, sagt Conor schließlich. Er sieht so frustriert aus, als würde er alle Teile am liebsten wieder durcheinanderbringen. Doch so was tut Conor nicht. »Wir verschwenden doch nur unsere Zeit.«
»Wir könnten Saldowr um Rat fragen.«
»Wo ist er?«
»Er war eben noch da.«
»Er ruht sich hinter dem Felsen aus«, sagt Elvira und deutet nach vorne. Und tatsächlich erblicken wir den zerfetzten Saum seines Umhangs im Wasser.
»Sollen wir ihn wecken?«
»Saldowr!«
Als er uns äußerst langsam entgegenschwimmt, wird mir mit Schrecken klar, wie alt er inzwischen aussieht.
»Habt ihr alle Stücke gefunden?«, fragt er.
»Wir haben überall gesucht. Aber es wird wohl ohnehin nichts nützen. Wir werden nie in der Lage sein, sie richtig zusammenzusetzen.«
»Wenn ihr das letzte Stück gefunden habt, wird sich der Schlussstein alleine zusammensetzen«, entgegnet Saldowr.
»Wollen Sie damit sagen, dass immer noch ein Stück fehlt? Aber wir haben wirklich überall gesucht. Es kann sich nirgendwo mehr verstecken.«
»Das fehlende Stück ist näher, als du denkst«, sagt er und zieht sich den Umhang von den Schultern. In seinem Fleisch steckt ein schmaler, keilförmiger
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