No & ich: Roman (German Edition)
Bauchschmerzen.
Am Anfang des Boulevard de Strasbourg kannte No ein Hotel, wo wir die Nacht verbringen konnten.
Der Wirt erkannte sie und verlangte, dass sie im Voraus zahlte. No zog einige Geldscheine aus dem Umschlag. Ich hätte gern gesehen, wie viel noch übrig war, doch sie steckte ihn sofort wieder weg. Er gab uns einen Schlüssel, und wir gingen nach oben ins Zimmer. Die Wände waren vergilbt und schmutzig, es roch nach Urin, die Bettwäsche wirkte nicht sehr sauber, die dunklen Spuren in der Dusche ließen darauf schließen, dass sie schon lange nicht mehr geputzt worden war. Hier also hatte sie vor unserer ersten Begegnung geschlafen, wenn sie genug Geld hatte. In einem solchen elenden Loch also hatte sie sich aufs Bett fallen lassen, wenn die Bettelei einträglich gewesen war. Das also musste man für ein schmutziges Zimmer voller Kakerlaken zahlen.
No ging noch einmal nach draußen, um einen Hamburger zu kaufen, sie wollte nicht, dass ich mitging. Ich blieb allein im Zimmer zurück, mir wurde einfach nicht warm. Ich suchte nach dem Heizkörper, und dann dachte ich an mein eigenes Zimmer, an meinen Regenbogen-Bettbezug, an mein altes gelbes Kaninchen, das auf einem Regal hockte, an die Schiebetüren meines Kleiderschranks, ich dachte an meine Mutter, an ihre Art, aus der Küche nach mir zu rufen, sich die Hände an dem neben der Spüle hängenden Tuch abzutrocknen, ihre Art zu lesen, quer im Sessel sitzend, an ihren Blick über die Brillengläser hinweg, ich dachte an meine Mutter, und mit einem Mal fehlte sie mir, es war wie in einem Aufzug im freien Fall. Zum Glück kam No zurück, sie hatte zwei Cheeseburger gekauft, dazu Pommes, Milkshakes und eine kleine Flasche Whisky. Wir setzten uns aufs Bett, sie fing an zu trinken und drängte mich zu essen, solange es noch heiß war, ich dachte an den Umschlag, viel konnte nicht mehr drin sein, nachdem wir so viel ausgegeben hatten. Und dann dachte ich mir, dass wir notfalls per Anhalter nach Cherbourg kommen würden, und dann würden wir schon weitersehen. No kletterte vom Bett, in Slip und T-Shirt, griff nach der Flasche wie nach einem Mikro und legte mir eine Johnny-Hallyday-Imitation hin, es war zum Totlachen, wir sangen aus vollem Hals que je t’aime que je t’aime und allumez le feu, es war uns scheißegal, dass die Leute gegen die Wand klopften, scheißegal, dass es nach totem Fisch roch, scheißegal, dass Tiere über die Wände huschten, wir beide waren zusammen, wir würden abhauen, uns vom Acker machen, wir würden weit weggehen.
Als wir uns schlafen legten, hatte sie die Flasche geleert, einige Pommes waren auf den Boden gefallen, ich hatte mein Nachthemd mit dem Mond darauf nicht angezogen und mir nicht die Zähne geputzt, ich war leicht wie noch nie, in meinem Kopf war alles ruhig, so ruhig war es noch nie gewesen, und so klar, es gab keine Wörter mehr, nur noch Gesten, ich schubste weg, was noch auf dem Bett lag, wir schlüpften unter die Decken, und ich knipste das Licht aus.
A m nächsten Tag wachte ich um acht Uhr auf, es war Montag, ich dachte an Lucas, ich dachte an Monsieur Marin, der wahrscheinlich gerade die Namen aufrief, und sagte sie im Kopf gemeinsam mit ihm auf, Armand, anwesend, Antoine, anwesend, Berthelot, anwesend, Bertignac? … Ich sah ihn vor mir, als wäre ich dabei, ich hörte das Schweigen in der Klasse. Mademoiselle Bertignac ist nicht da, Mademoiselle Bertignac hat ihr Leben verlassen, Mademoiselle Bertignac ist verschwunden. No wachte erst viel später auf, inzwischen hatte ich die Sachen in den Koffer gepackt, die Reste der Cheeseburger weggeworfen und die Blumen auf der Tapete gezählt. Wir nahmen die Metro bis zur Gare Saint-Lazare, uns gegenüber stand ein Mann unaufhörlich auf und setzte sich wieder, er prüfte seinen Kragen, rückte die Krawatte zurecht, betrachtete sich in der Fensterscheibe, und einige Sekunden später wiederholte er die gleichen Bewegungen in derselben Reihenfolge. Das war nun wirklich der Beweis, soweit überhaupt noch nötig, dass etwas nicht stimmte. Man brauchte sich bloß umzuschauen. Man braucht bloß den Blick der Leute zu sehen, man braucht bloß zu zählen, wie viele Menschen Selbstgespräche führen oder sonst wie entgleisen, man braucht nur mit der Metro zu fahren. Ich dachte an die Nebenwirkungen des Lebens, die auf keinem Beipackzettel, in keiner Gebrauchsanweisung genannt werden. Ich dachte, auch das sei Gewalt, ich dachte, die Gewalt sei überall.
Der Wind fegte durch den
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