No & ich: Roman (German Edition)
steht vor mir. Was, so spät kommst du nach Hause, würde ich gern brüllen und streng fragen, wo er war, ihm den Weg versperren und Erklärungen verlangen. Ich wünschte, ich wäre zwanzig Zentimeter größer und imstande, böse zu werden.
Mein Vater ruft mich an, sie kommen gerade aus dem Theater, in einer halben Stunde werden sie da sein. Wahrscheinlich hat das Klingeln des Telefons No geweckt, sie schlägt die Augen auf und fragt mich, wer gewonnen hat. Sie ist leichenblass, ich muss kotzen, sagt sie, Lucas fasst sie schnell unter den Armen und bringt sie zur Toilette, sie stützt sich an der Kloschüssel ab und beugt sich darüber, er hält sie fest, bis es vorüber ist. Aus ihrer Jeanstasche schauen Geldscheine heraus, Fünfzig-Euro-Scheine, mehrere, hinter ihrem Rücken greife ich nach Lucas’ Arm und zeige wortlos darauf.
Und da gerät Lucas in eine Höllenwut, er presst sie gegen die Wand, er schreit, er ist außer sich, so habe ich ihn noch nie gesehen, was tust du, No, brüllt er, was tust du, er schüttelt sie mit aller Kraft, antworte mir, No, was tust du?
No beißt die Zähne zusammen, aus tränenlosen Augen sieht sie ihn an, sie verteidigt sich nicht, sie sieht ihn an, mit diesem herausfordernden Ausdruck, ich weiß genau, was das bedeutet, er hält sie an den Schultern gepackt, ich schreie hör auf, hör auf und versuche, ihn zurückzuhalten. Sie sieht ihn an, was glaubst du denn, sagt dieser Blick, was glaubst du denn, wie man zurechtkommen soll, was glaubst du denn, wie man aus dieser Scheiße herauskommen soll, ich höre es, als würde sie es schreien, ich höre nur noch das. Als er sie endlich loslässt, fällt sie auf die Fliesen zurück und schlägt sich die Lippe am Kloschüsselrand auf, er knallt die Tür zu, sie bleibt verstört zurück.
Ich setze mich neben sie, streichle ihr übers Haar, Blut läuft über meine Hände, nicht so schlimm, sage ich und wiederhole es mehrmals, nicht so schlimm, aber im Grunde weiß ich, es ist schlimm, im Grunde weiß ich, ich bin ganz klein, im Grunde weiß ich, er hat recht: Wir sind nicht stark genug.
B evor ich No kennenlernte, dachte ich, Gewalt, das seien Schreie, Schläge, Krieg und Blut. Jetzt weiß ich, dass Gewalt auch im Schweigen sein kann, dass sie manchmal nicht mit bloßem Auge zu erkennen ist. Gewalt ist diese Zeit, die die Wunden verdeckt, die unerbittliche Abfolge der Tage, die Unmöglichkeit einer Rückkehr in die Vergangenheit. Gewalt ist das, was wir nicht begreifen, sie schweigt, sie zeigt sich nicht, Gewalt ist, was sich nicht erklären lässt, was für immer undurchsichtig bleibt.
Sie warteten schon seit zwanzig Minuten unten vor dem Haus, ich öffnete die Wagentür und setzte mich nach hinten, im Wagen duftete es nach dem Parfüm meiner Mutter, ihr glattes Haar floss über ihre Schultern. Drei Mal hatten sie mich von unten aus angerufen, bis ich endlich kam, sie waren verärgert.
Ich hatte keine Lust zu sprechen. Ich hatte keine Lust, sie zu fragen, ob ihnen das Stück gefallen habe und ob sie einen netten Abend verbracht hätten. Nos Bild klebte auf meiner Netzhaut. No, wie sie, Blut im Mund, auf dem Boden sitzt. Und darüber Lucas, wie er mit der Faust gegen die Wand schlägt. Mein Vater stellte den Wagen in der Tiefgarage ab, wir fuhren mit dem Aufzug hinauf, es war schon nach Mitternacht. Er wollte mit mir reden.
Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, meine Mutter ging Richtung Badezimmer.
»Was ist los, Lou?«
»Nichts.«
»Doch. Es ist etwas los. Wenn du dein Gesicht sehen könntest, würdest du nicht nichts sagen.«
»…«
»Warum verschanzt ihr euch immer bei Lucas zu Hause? Warum lädst du deine Freunde nie zu uns ein? Warum willst du nicht, dass ich raufkomme und dich abhole? Warum lässt du uns zwanzig Minuten lang warten, obwohl ich dich angerufen habe, bevor wir losfuhren? Was ist los, Lou? Früher kamen wir beide doch ganz gut miteinander zurecht, wir haben uns immer mal was erzählt und miteinander geredet. Wo ist das Problem?«
»…«
»Ist No bei Lucas?«
Ich hebe unwillkürlich den Kopf. Scheiße. Mein Vater ist einfach zu schlau. Dabei hatten wir alles wasserdicht gemacht.
»Antworte, Lou, ist No bei Lucas?«
»Ja.«
»Haben seine Eltern sie aufgenommen?«
»Ja … das heißt nein. Seine Eltern sind nicht da.«
»Seine Eltern sind nicht da?«
Einige Sekunden lang herrscht Schweigen, mein Vater nimmt die Information in ihrer gesamten Tragweite in sich auf.
Die ganze Zeit über, in der ich nun
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