No & ich: Roman (German Edition)
Bahnhof, wir gingen bis zur Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten, der nächste Zug nach Cherbourg fuhr zwei Stunden später ab. Dann gingen wir zum Warteraum, um unser Gepäck abzustellen, und setzten uns auf die am weitesten von der Tür entfernten Plastiksitze, sie rollte sich eine Zigarette und sagte, ich hol die Fahrkarten, warte hier auf mich.
Ich weiß nicht, wieso ich nicht gesehen habe, dass sie den Koffer mitnahm, ich weiß nicht, wie das möglich war. Ich fragte sie noch einmal, ob sie genug Geld habe, sie sagte noch einmal, mach dir keine Gedanken, ich beugte mich über die Tasche, um ein Papiertaschentuch zu suchen, als sie ging. Ich habe es nicht gesehen, ich habe nicht gesehen, dass sie den Koffer hinter sich herzog.
Ich wartete darauf, dass sie zurückkam. Ich machte mir keine Gedanken. Ich wartete eine halbe Stunde. Und dann noch eine. Und dann bemerkte ich, dass der Koffer nicht mehr da war. Ich wartete weiter, weil es sonst nichts zu tun gab. Weil sie nicht ohne mich fortgegangen sein konnte. Ich wartete, weil ich Angst hatte, wir könnten uns verlieren. Ich wartete und rührte mich nicht vom Fleck, damit sie wusste, wo ich war. Ich wartete, und es wurde dunkel. Ich glaube, ich bin ein bisschen eingeschlafen, einmal war mir, als hätte mir jemand von hinten auf die Schulter geklopft, ich schlug die Augen auf, doch sie war nicht da. Ich wartete, und sie kam nicht zurück.
Es war kalt, ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Schließlich verließ ich den Bahnhof, der letzte Zug nach Cherbourg war gerade abgefahren, ich ging über den Bahnhofsvorplatz bis zur Rue Saint-Lazare, ringsum war all dieser Lärm, die Autos, die Busse, das Hupen, mir drehte sich der Kopf, ich blieb stehen und streichelte in meiner Hosentasche das kleine Opinel-Messer, das Lucas eines Tages auf dem Schulhof fallen lassen hatte, ohne es zu bemerken, und das ich seither immer bei mir trug.
No hatte mich verlassen. No war ohne mich fortgegangen.
Um mich herum war nichts verstummt, um mich herum ging das Leben weiter, laut und chaotisch.
Wir sind zusammen, Lou, oder, wir sind zusammen, vertraust du mir, du vertraust mir, ruf mich an, wenn du gehst, ich erwarte dich unten an der Treppe, ich erwarte dich vor dem Café, es wird besser bezahlt, aber ich muss nachts arbeiten, lass mich schlafen, ich bin total platt, ich kann mich nicht mehr rühren, nur nicht darüber sprechen, wir sind zusammen, Lou, wenn du mich zähmst, wirst du für mich einzig sein auf der Welt, ich habe gesagt, ich möchte Suzanne Pivet sprechen, wenn du mitkommen könntest, du stellst dir zu viele Fragen, dir brennen noch die Neuronen durch, wir sind zusammen, oder, du kommst also mit, ich werde nie zu deiner Familie gehören, Lou, was glaubst du denn, du kommst also mit, ich hole die Fahrkarten, das ist nicht dein Leben, verstehst du, das ist nicht dein Leben.
I ch bin zu Fuß nach Hause gelaufen, ich hatte kein Metro-Ticket, ich hatte nichts. Ich bin lange gelaufen, ich habe mich nicht beeilt, ich habe niemanden um Hilfe gebeten, ich bin nicht zur Polizei gegangen. Meine Tennisschuhe drückten. Mir war gerade etwas passiert. Etwas, dessen Sinn ich begreifen musste, dessen Tragweite ich erfassen musste, fürs ganze Leben. Ich habe weder die Ampeln gezählt noch die Twingos, ich habe keine Multiplikationen im Kopf durchgeführt, ich habe weder Synonyme für Erbenlosigkeit gesucht noch eine Definition von Veranlagung. Ich sah gerade vor mich hin, während ich ging, ich kannte den Weg, mir war etwas passiert, das mich größer gemacht hatte. Ich hatte keine Angst.
Ich klingelte an der Tür, meine Mutter machte auf. Ich sah ihr völlig aufgelöstes Gesicht, ihre roten Augen. Sie stand vor mir, sie schien keinen Laut zustande zu bringen, und dann zog sie mich an sich, ohne ein Wort, sie weinte, wie ich sie noch nie hatte weinen sehen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, dieses Schweigen, ihr vom Schluchzen geschüttelter Körper, mir tat alles weh, aber ich weinte nicht, es tat weh wie noch nie. Schließlich sagte sie, du hast uns Angst gemacht, und ging ins Wohnzimmer, um meinen Vater zu benachrichtigen, der auf der Polizeiwache war.
L ucas und ich warteten noch einige Wochen, bevor wir zu Geneviève fuhren, wir nahmen die Metro bis zur Porte de Bagnolet und schnappten uns einen Einkaufswagen, bevor wir den Supermarkt betraten, wir ließen uns von der Musik treiben, Glocken läuteten, und es gab einen ganzen Gang voller Ostereier. Wir stellten
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