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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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schon zu Lucas gehe, die ganze Zeit über, in der wir in dieser großen Wohnung ohne auch nur den Schatten eines Erziehungsberechtigten uns selbst überlassen waren, die ganze Zeit lüge ich durch Verschweigen. Und die ganze Zeit waren sie anderweitig beschäftigt. Er schwankt zwischen Vorwürfen und dem Sturm der Entrüstung und atmet tief ein.
    »Wo sind seine Eltern?«
    »Sein Vater lebt jetzt in Brasilien, und seine Mutter in Neuilly, manchmal kommt sie übers Wochenende zurück.«
    »No ist bei ihm, seit sie hier weggegangen ist?«
    »Ja.«
    »Warum hast du uns nichts gesagt?«
    »Weil ich Angst hatte, du würdest sie in irgendeine Einrichtung bringen lassen.«

    Mein Vater ist zornig. Zornig und müde.
    Er hört mir zu, und ich versuche, es zu erklären.
    Sie will nicht in ein Obdachlosenzentrum, weil es da schmutzig ist, weil man sie da morgens um acht rauswirft, weil man immer mit einem halben Auge wach bleiben muss, um nicht beklaut zu werden, weil sie irgendwo ihre Sachen lassen muss und einen Ort braucht, an dem sie ausruhen kann. Sie achtet nicht auf sich, weil niemand da ist, der sie erwartet, wenn sie rausgeht, niemand, der sich um sie kümmert, weil sie an nichts mehr glaubt, weil sie ganz allein ist.
    Ich weine und spreche weiter, ich sage allen möglichen Unsinn, aber euch sind wir ja sowieso egal, No und ich, ihr habt das Handtuch geworfen, ihr habt aufgegeben, ihr versucht bloß, die Fassade aufrechtzuerhalten und die Risse zu übertünchen, aber ich, ich gebe nicht auf, ich kämpfe. Mein Vater sieht mich an, all die Tränen auf meinem Gesicht, den Rotz, der aus meiner Nase läuft, er sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden, und ich mache weiter, ich kann mich einfach nicht mehr bremsen, euch ist das alles scheißegal, ihr sitzt ja schön im Warmen, und es stört euch, wenn einer bei euch zu Hause säuft, einer, dem es nicht gutgeht, so etwas passt ja nicht ins Bild, und ihr seht euch stattdessen lieber Ikea-Kataloge an.
    »Du redest Unsinn, Lou. Du bist ungerecht, und du weißt es. Geh schlafen.«

    Meine Mutter kommt aus dem Badezimmer, wahrscheinlich hat sie mich schreien gehört, in einen seidenen Morgenmantel gehüllt, kommt sie zu uns ins Wohnzimmer, sie hat sich das Haar gebürstet, mein Vater sagt ihr in wenigen Worten, worum es geht, und ich muss sagen, seine Zusammenfassung zeugt von einem ausgeprägten Sinn fürs Wesentliche, wie Madame Rivery gewiss anerkennend feststellen würde.
    Meine Mutter schweigt.
    Ich möchte, dass sie mich in die Arme nimmt, dass sie mir über die Stirn streicht, übers Haar, dass sie mich an sich drückt, bis mein Schluchzen nachlässt. Wie vorher. Ich möchte, dass sie sagt, nicht so schlimm, oder, jetzt bin ich ja da, ich möchte, dass sie meine nassen Augen küsst.
    Aber meine Mutter bleibt mit hängenden Armen an der Wohnzimmertür stehen.

    Da denke ich, dass Gewalt auch darin besteht, in dieser unmöglichen Geste von ihr zu mir, dieser auf immer steckengebliebenen Geste.

I ch habe ihre Stimme am Telefon gleich erkannt, es war zehn Uhr morgens, und sie flehte mich an zu kommen, bitte, sagte sie mehrere Male, sie müsse weggehen, Lucas’ Mutter wisse etwas, sie werde bald anrücken und nachsehen, ich müsse kommen, sofort. Allein schaffe sie es nicht. Das wiederholte sie noch mehrere Male, allein schaffe ich es nicht.
    Er war da, der Augenblick, den wir so sehr gefürchtet hatten. Der Augenblick, in dem No wieder einmal gezwungen sein würde, ihre Sachen zu packen. Es war zehn Uhr morgens, und die Linie war abgebrochen, die Bruchstelle war da, sichtbar. Es war zehn Uhr morgens, und ich würde weggehen, ich würde mit No weggehen. Ich holte die Sporttasche, die ich immer in die Ferien mitnehme, aus dem Wandschrank und legte sie offen aufs Bett. Ich packte einige Kleidungsstücke ein, schnappte mir Zahnbürste und Zahnpasta und warf sie zusammen mit ein paar rosa Wattebällchen und dem Gesichtswasser, das meine Mutter mir gekauft hat, in den Kulturbeutel. Das Atmen fiel mir schwer.
    Meine Eltern waren früh aus dem Haus gegangen, um auf dem Markt einzukaufen. Ich würde weggehen, ohne sie zu sehen, ich würde mich wegstehlen wie ein Dieb, meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich würde weggehen, weil es keine andere Lösung gab, weil ich No nicht allein lassen durfte, weil ich sie nicht im Stich lassen durfte. Ich machte mein Bett, ich zog das Betttuch stramm, klopfte das Kopfkissen auf und strich die Bettdecke glatt. Ich faltete mein Nachthemd und

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