No & ich: Roman (German Edition)
so, als interessiere sie sich für die Kommentare der Jury, aber im Grunde, das sehe ich, sind sie ihr scheißegal, die Kommentare und alles andere, alles ist ihr scheißegal.
Meine Eltern sind im Theater, sie haben mir erlaubt, bei Lucas zu bleiben, nach der Vorstellung wollen sie mich bei ihm abholen. Meine Mutter hat eine quiche lorraine gemacht, die habe ich mitgebracht und unterwegs Litschis und Mangos gekauft, auf die No ganz wild ist. Heute Abend geht sie nicht arbeiten, es ist ihr freier Tag.
Wir warten auf Lucas. Donnerstags hat er Gitarrenunterricht. Der Lehrer hat seiner Mutter mitgeteilt, er komme nur hin und wieder, seither geht er hin, damit es keine Probleme gibt. Er ist noch nicht zurück. Je später es wird, desto überzeugter bin ich, dass er nicht wegen des Gitarrenunterrichts so lange wegbleibt. Je später es wird, desto heftiger denke ich an Léas Party, auf die ich nicht gegangen bin. Vielleicht haben sie sich auf ein Glas verabredet, vielleicht hat sie ihren schwarzen Pulli mit dem sehr tiefen V-Ausschnitt angezogen und ihre enge Jeans. Vielleicht hat auch er es satt.
Für Océane muss man die 1 drücken, für Thomas die 2. No ist mehr für Océane, aber ich stimme für Thomas, weil er Lucas ähnelt, ein dünnerer Lucas mit kleineren Augen, denn Lucas’ Augen sind groß und dunkel.
Die Leute im Fernsehen haben alle weiße Zähne. Ich habe No gefragt, woran es ihrer Meinung nach liegt. Handle es sich um einen Beleuchtungseffekt oder um eine Spezialzahnpasta, die nur von Stars verwendet werde, oder aber um etwas, was sie vor der Sendung wie einen Lack auftrügen, damit die Zähne glänzten?
»Ich weiß nicht, worum es sich handelt, Lou, du stellst dir zu viele Fragen, irgendwann brennen dir noch die Neuronen durch.«
Sie ist schlecht drauf. Sie kauert sich auf dem Sofa zusammen, ich beobachte sie heimlich. Sie ist so mager wie an dem Tag, als ich ihr das erste Mal begegnete, und sieht aus, als hätte sie seit Wochen nicht mehr geschlafen, ihre Augen glänzen wie im Fieber. Sobald man sich umsieht, stellt man sich Fragen. Und ich sehe mich um, das ist alles. Ich sage mir, wenn sie so weitermacht, wird sie nie genug Kraft haben, um nach Irland zu reisen. Ich sehe, dass ihre Hände zittern und dass sie sich kaum aufrecht halten kann. Ich sehe, dass nur noch wenig Wodka übrig ist. Der Alkohol beschütze sie, hat sie mir erklärt, aber trotzdem lässt sie nicht zu, dass ich welchen trinke, nicht einen Tropfen. Ich würde auch gern von etwas beschützt, ich hätte gern, dass mir jemand sagt, alles wird gut, das ist alles nicht so schlimm.
Während der Werbung versuche ich, sie ein wenig abzulenken.
»Weißt du, in Irland gibt es Herrenhäuser, Schlösser, Hügel, unglaubliche Steilfelsen und sogar Lagunen.«
»Ach so. Du kommst also mit?«
Das ist keine Frage aufs Geratewohl. Keine Frage einfach so. Sie erwartet eine Antwort. Vielleicht gleicht das Leben in Irland den Plakaten, die man in den Metrostationen sieht. Vielleicht ist das Gras wirklich grün und der Himmel so weit, dass man ins Unendliche blicken kann. Vielleicht ist das Leben in Irland einfacher. Vielleicht wäre sie gerettet, wenn ich mit ihr ginge. Es ist spät, und Lucas ist noch nicht zurück.
»Weiß nicht. Vielleicht …«
Loïc arbeitet in einem Pub in Wexford und wohnt mit seinen Hunden und Katzen in einem großen Haus auf dem Land. Es hat viele Zimmer und eine riesige Küche, er hat oft Freunde zu Besuch, sie grillen Hähnchen am Spieß, machen Lagerfeuer in seinem Garten, singen alte Lieder, sie machen Musik und verbringen die Nacht, in Decken gewickelt, im Freien, er verdient viel Geld und achtet nicht auf die Ausgaben. Er wollte ein Haus für sie, er hat ihr Fotos geschickt, sie hat gesehen, wie hoch die Bäume sind, sie hat das unglaubliche Licht gesehen und das Bett, in dem sie schlafen werden. Loïc hat lange, schmale Hände und lockiges Haar, er trägt Totenkopfringe und einen langen schwarzen Mantel, das hat No mir erzählt. Sie hat ihm geschrieben, sie werde bald kommen, sobald sie das Geld hätte.
Océane hat gewonnen. Über ihre Wangen laufen Tränen, strahlend zeigt sie ihr Gebiss. Sie ist schön. No ist eingeschlafen. Sie hat die Flasche Wodka ausgetrunken. Ich sehe noch einmal auf die Uhr. Ich wüsste gern, wie viel Geld in dem Umschlag ist. Ich würde mich gern neben sie legen und auf etwas warten, das einer Musik gleichen würde, etwas, das uns einhüllen würde.
Ich habe Lucas nicht gehört, er
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