Noah & Echo - Liebe kennt keine Grenzen
entstellt, versucht, sich ins normale Leben zurückzukämpfen, nur um festzustellen, dass ihr normales Leben sie nicht mehr haben will. Ich ging in die Umkleide, wo die ganzen jüngeren Mädchen munter vor sich hin schwatzten und lachten.
»Hi«, kam eine schwache Stimme hinten aus dem Raum. Alle verstummten auf einmal und starrten mich an, als ob aus meinen Augen Laserstrahlen kämen oder irgendwas noch Schlimmeres – als hätte ich meine Ärmel hochgerollt und ihnen meine Teufelsnarben gezeigt.
»Hallo«, erwiderte ich.
Eher hätte ich mir ein Wochenende lang Wiederholungen von schlechten Sitcoms aus den Siebzigern reingezogen, als mir hier einen Platz zu suchen und mich umzuziehen. Aber einfach so rumzustehen wie ein Idiot, war auch nicht gerade die beste Option. Warum hatte ich nicht Noahs Selbstvertrauen? Der scherte sich nicht darum, was die anderen von ihm dachten.
Okay, mir mangelte es zwar an Selbstvertrauen, aber ich war gut im Vortäuschen.
Tu einfach so, als wärst du Noah, oder noch besser, Bikerbraut-Beth
, redete ich mir zu und ging erhobenen Hauptes quer durch den Raum zu den Duschen, wo ich mich in einer Kabine umziehen wollte. Denn das vor den anderen zu machen kam definitiv nicht infrage.
Ich versuchte, meine Anspannung abzuschütteln, schloss die Kabinentür hinter mir und zog mich um. Wenn mir schon der Gang durch die Umkleide wie der Anfang eines Stephen-King-Romans vorkam, dann musste das Tanztraining wie die Hauptrolle in einem Horrorfilm sein.
Gott sei Dank war die Umkleide leer, als ich zurückkam. Ich machte mich auf den Weg zur Halle. Auf dem Gang standen zwei Neuntklässlerinnen am Wasserhahn und unterhielten sich kichernd. »Stell dir vor, Echo Emerson will wieder mitmachen! Ist das nicht ein Albtraum?«
»Die glaubt wohl, bloß weil Luke sie wieder anhimmelt, ist sie jetzt wieder die Tollste, oder was?«
Ich verschwand hastig auf der Toilette. Mein Mut hatte sich in Luft aufgelöst, mein gespieltes Selbstvertrauen lag in Scherben.
Wieder in Jeans, Top und braunem T-Shirt, schlenderte ich durch die Gänge. Jetzt musste ich bis zu den Prüfungen fünfmal die Woche jeden Tag eine Stunde totschlagen. Oder vielleicht nur viermal, wenn ich die Nachhilfe mit Noah auf Montag nach Unterrichtsschluss zurückverlegen konnte.
Ich bog um eine Ecke, und etwas in mir seufzte vor Erleichterung, als ich die Bilder und Zeichnungen überall an der Wand sah. Ich folgte ihrer Spur, bis ich in dem Raum landete, der immer mein Lieblingsort an der Schule gewesen war – dem Kunstraum. Mehrere Bilder standen auf Staffeleien in einem Kreis und warteten auf die Rückkehr ihrer Meister. In der Mitte ruhte eine Schale mit Plastikobst auf einem Tisch.
Ich sah mir jedes Bild an. Ich bewunderte das erste für die gelungene Schattierung, das zweite für seine Details. Und das dritte?
»Wie schön, dich zu sehen, Echo.« Meine ehemalige Kunstlehrerin, Nancy, tauchte aus der angrenzenden Dunkelkammer auf und kam zwischen den Staffeleien und Tischen hindurch zu mir. Sie bestand darauf, von ihren Schülern mit Vornamen angeredet zu werden. Für Regeln und Formalitäten hatte sie nichts übrig. Ihr Haar – wasserstoffblond mit schwarzen Strähnchen – untermalte diese Einstellung.
Ich deutete auf das dritte Bild: »Abstrakt-expressionistisch?«
Ihr ausgelassenes Lachen schallte durch den Raum. Sie rückte ihre schwarze Hornbrille zurecht. »Faule Schülerin, die dachte, mit Kunst könnte man sich bequem eine Eins holen. Sie nennt sich selbst eine Impressionistin.«
»Eine Beleidigung.«
»Ich weiß. Ich habe sie gefragt, ob sie überhaupt weiß, was Impressionismus ist, und als sie den Kopf schüttelte, habe ich ihr deine Bilder gezeigt.« Nancy betrachtete das Tohuwabohu vor ihren Augen, als versuche sie, irgendwas Brauchbares darin zu finden. »Ich habe dich vermisst.«
Meine üblichen Gewissensbisse meldeten sich. »Tut mir leid.«
»Nein, so meinte ich das nicht. Es ist doch nicht deine Schuld. Dein Vater hat mir mitgeteilt, dass du keinen Kunstunterricht mehr besuchen darfst. Ich habe angenommen, dass ich dich nie wiedersehen würde.«
Ich ging zum vierten Bild. »Gute Linienführung.«
»Malst du noch?«
Ich neigte den Kopf, als wäre ich maßlos interessiert an der Farbgebung der Banane, was ich natürlich nicht war. Das schwarze Loch in meinem Kopf breitete sich aus und verscheuchte jeglichen Gedanken an Malerei. »Nein, aber ich zeichne. Hauptsächlich Bleistift. Manchmal auch mit
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