Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
die Punkte schnellen nach oben. 6000. 7000 . Chuck lehnt sich seitlich an den Automaten und starrt auf die Ziffern.
Wir werden niemals wissen, ob es Chucks Berührung war oder Teds Reaktion darauf, was die Kugel veranlasste, ihre Bahn ein wenig zu ändern und unaufhaltsam zwischen den beiden Flipperhebeln hindurchzuschießen. Ted allerdings hat eine klare Meinung dazu.
» Du bist dagegengestoßen!«, brüllt er, haut mit der einen Hand auf den Flipperautomaten und deutet mit dem Zeigefinger der anderen auf Chuck.
» Das war dein eigener Fehler, Alter!«, brüllt Chuck zurück und schlägt Teds Hand weg.
» Mach das nicht«, sagt Joni.
» Halt dich da raus«, fährt Chuck sie an.
» Erzähl ihr nicht, was sie machen oder nicht machen soll!«, ruft Ted.
Chuck stößt Ted von dem Flipper weg. Ted wehrt sich und fegt Chuck die Baseballkappe vom Kopf.
Da tritt Tony zwischen die beiden und fängt aus Leibeskräften » If I had a Hammer« zu singen an.
Ich kann es nicht glauben. Ich hatte ihm irgendwann mal erzählt, das beste Mittel, einen Streit zu schlichten, sei, sich zwischen die Streithähne zu stellen und einfach irgendein altes Volkslied zu singen. Aber ich habe noch nie von jemand gehört, der das tatsächlich gemacht hat.
Es funktioniert. Während Tony von Gerechtigkeit und Liebe zwischen den Brüdern und Schwestern überall in diesem Land verkündet, weichen Ted und Chuck auseinander. Joni greift nach Chucks Arm und zieht ihn von den Flippern weg. Einen Takt später macht Jasmine dasselbe mit Ted. Sie legt ihren Arm erst dann um ihn, als Joni sich kurz über die Schulter nach ihr umdreht.
» Gut gemacht«, sage ich zu Tony.
» Die andere Möglichkeit wäre noch ›Where have all the Flowers gone ‹ gewesen.«
Wir blicken auf die Paare um uns herum und beschließen, dass wir dringend eine Auszeit brauchen.
Wir werden morgen einen Berg besteigen.
Am Berg
Tony und ich sind inzwischen der Meinung, dass ein Hetero-Junge mit intoleranten, streng gläubigen Eltern nichts Besseres für sein Liebesleben tun kann, als ihnen zu erzählen, er sei schwul. Bevor Tonys Eltern nämlich entdeckten, dass er schwul ist, wollten sie ihm noch nicht einmal erlauben, einem Mädchen die Hand zu schütteln. Wenn er jetzt aber erwähnt, er würde irgendwas mit einem Mädchen unternehmen– egal welchem Mädchen–, dann schieben sie ihn eifrig und voller Hoffnung zur Tür hinaus.
Jay und ich warten auf dem Parkplatz eines Waschsalons, ein paar Kreuzungen von Tony entfernt. Tony hat ihnen erzählt, dass er mit Mary Catherine Elizabeth aus seiner Schule etwas unternehmen will. Seine beiden Alten hatten sofort Visionen von einem unbefleckten Sündenfall, drückten ihm haufenweise Geld in die Hand und wünschten ihm einen schönen Tag. Er verlässt das Haus in einen Anzug für verklemmte Flirtversuche geklemmt. Als er bei unserem Auto ankommt, werfe ich ihm einen Seesack zu und er wechselt in Freizeit- und Wanderkluft. Jay lässt uns am Wasserschutzgebiet raus und auf geht’s zum Berg.
Na ja, eigentlich ist es kein richtiger Berg. Nicht so einer wie in den Rocky Mountains oder den Appalachen. Jeder ernsthafte Bergsteiger würde ihn Hügel nennen. Aber Tony und ich sind keine ernsthaften Bergsteiger. Wir sind nur zwei Gay Boys aus einem Vorort, die ein bisschen Natur brauchen. Ich bewege mich gern durch die Anonymität der Bäume. Ich war schon so oft hier, dass ich keine Angst habe, mich zu verlaufen.
Das erste Mal bin ich mit Tony hier gewesen. Um ehrlich zu sein, ist es sein Ort. Wir kannten uns damals seit ein paar Wochen, hingen zusammen rum, guckten Filme und streiften durch das Einkaufszentrum. Dann sagte er mir eines Tages, es gebe da einen Ort, den er mir gern zeigen wolle. Also bin ich Freitag nach der Schule bei ihm vorbeigekommen und wir sind eine Stunde bis zum Wasserschutzgebiet gewandert. Ich war schon eine Million Mal dran vorbeigefahren, aber betreten hatte ich es nie.
Tony kennt die Namen aller Bäume und Vögel, und wenn wir hier herumspazieren, nennt er mir sie. Ich versuche jedes Mal, sie im Gedächtnis zu behalten, doch vergebens. Was für mich zählt, ist der Gefühlswert der Dinge. Ich erinnere mich noch genau an den Felsen, auf dem wir gesessen und miteinander geredet haben, als wir das erste Mal hier waren. Ich grüße jedes Mal den Baum, den ich bei unserem vierten Besuch hochklettern wollte– was damit endete, dass ich mir beinahe das Genick gebrochen hätte. Und dann ist da noch die
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