Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Sie spricht den Teil in mir an, der sich nach einer Zeitreise sehnt– zurück in die noch gar nicht so ferne Epoche, als Tony, Joni und ich eine Dreierbande waren.
Natürlich ist Chuck dieses Mal auch dabei. Er fragt mich nicht, ob ich vielleicht vorne sitzen möchte. Er setzt sich auf den Vordersitz, als sei dies sein angestammtes Recht.
Joni scheint das nicht einmal zu bemerken.
Und so sitze ich auf der Rückbank zwischen leeren Saftflaschen (von ihr) und zerquetschten Coladosen (von ihm). Ich denke darüber nach, wann Joni aufgehört hat, ihren Müll ordentlich zu recyceln, und bedauere es, freiwillig in ihr Auto eingestiegen zu sein. Meine Wut, weil sie Chuck alles erzählt hat, kocht wieder in mir hoch. Der Siedepunkt ist bald erreicht. Ich schwöre mir, sie mir vorzuknöpfen, sobald ich sie einen Augenblick ohne Chuck erwische.
Aber dieser Augenblick kommt nicht. Die beiden machen noch nicht mal Pause voneinander, um aufs Klo zu gehen.
Meine Gereiztheit lässt etwas nach, als Tony zu mir auf den Rücksitz einsteigt. Jetzt habe ich wenigstens jemanden, mit dem ich genervte Blicke austauschen kann. Zum ersten Blickwechsel– ich mit weit aufgerissenen Augen, Tony eine Augenbraue hochgezogen– kommt es, als Chuck die Macht über das Radio an sich reißt und das Auto mit Testosteronrock volldröhnt, und zwar die Art, die sich am besten als Untermalung von » Profi«-Wrestling-Videos eignet. Der zweite Blickwechsel– ich ungläubig blinzelnd, Tony die Augen zum Himmel verdrehend– findet statt, als Chuck auf einmal anfängt mitzusingen und uns blöd anmacht, weil wir nicht einstimmen. Als ob ich den Text eines Lieds mit dem Titel » She’s All Mouth« kennen würde.
Joni singt auch nicht mit, aber sie unternimmt einen halbherzigen Versuch, den Rhythmus auf dem Lenkrad mitzuklopfen. Einmal trifft sie dabei aus Versehen die Hupe, was bei Chuck eine Lachsalve auslöst.
» Nöött-nöött«, grölt er.
Der dritte Blickwechsel– Tony und ich inständig flehend: Holt uns hier aus diesem Auto raus, sofort!
Wir fahren zum Diner unserer Stadt, einer von den Läden, wo du tausend Beziehungen brauchst, damit dein Lied in der Jukebox gespielt wird. Die weiblichen Bedienungen haben perfekt lackierte Fingernägel, die männlichen Bedienungen sind frisch geschniegelt und gestriegelt. Die Speisekarte hat die Größe eines Holzbretts, und um sie zu lesen, braucht man so lang wie für die Morgenzeitung. Frühstück wird den ganzen Tag über serviert, meistens als Abendessen.
Als wir uns auf den Plastikbänken an einem Tisch niedergelassen haben, sehe ich in Jonis Augen kurz so etwas wie Besorgnis aufblitzen. Es ist die erste nicht auf Chuck bezogene Reaktion, seit ich in ihr Auto eingestiegen bin. Oder zumindest glaubte ich zuerst, es handle sich um einen Chuck-freien Moment. Bald bemerke ich nämlich, dass alle ihre Reaktionen in irgendeiner Weise auf Chuck bezogen sind.
Ich drehe mich um, folge ihrem Blick und entdecke, dass drei Tische weiter Ted mit Jasmine Gupta sitzt. Er kehrt uns den Rücken zu, aber als Jasmine sieht, dass ich sie anschaue, zwinkert sie mir zu.
Kyle könnte von Jasmine etwas lernen– sie verliebt sich in Jungs wie in Mädchen, das Geschlecht spielt für sie keine Rolle. Entscheidend ist, dass die- oder derjenige eben erst eine unglückliche Trennung hinter sich gebracht hat. Irgendetwas an diesem fragilen, aber rachsüchtigen Zustand scheint sie zu faszinieren.
Die alte Joni kehrt für einen Augenblick zurück.
» Wie ich sehe, hat Ted jetzt also doch den Weg genommen, den alle nehmen«, meint sie bissig. (Bisher war Ted nach einer Trennung von Joni noch nie in Jasmines Arme geflüchtet.)
» Er ist ein Mistkerl«, murmelt Chuck, vielleicht weil er glaubt, dass das von ihm jetzt erwartet wird.
» Nein, ist er nicht«, sage ich freundlich.
» Was wollen wir denn alle essen?«, wirft Tony ein. Eine der Schwächen harmonieliebender Menschen ist, dass sie mit Disharmonie nicht umgehen können.
» Ich wette, Joni bestellt das Thunfisch-Sandwich«, meint Chuck grinsend.
» Er kennt mich so gut!«, antwortet Joni, aber ich bezweifle sehr, dass sie tatsächlich gerade ein Thunfisch-Sandwich bestellen wollte.
Was hast du mit der alten Joni angestellt, du Eindringling?!
» Klingt prima«, sagt Tony. Unsere Bedienung taucht auf, und für eine Minute, vielleicht auch zwei, sind wir vom Zwang zum Gespräch befreit. Als sie gegangen ist, konzentrieren wir uns auf unverfängliche Themen wie Schule
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