Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
jede Farbe, die er auf die Leinwand peitscht, ist wie eine Wunde. Ich versuche, wegzuschwimmen, aber ich hänge wie eine Marionette an einem Faden fest. Ich bin nicht ins Anderswo gereist, ich bin an einen ganz bestimmten Ort gereist. Ich versuche, zu den einfachen Farben und Mustern zurückzuwechseln, aber sie alle entströmen jetzt Noahs Pinsel. Ich versuche, an den Strand zurückzukehren, zum Vulkan. Vergeblich. Sogar die Musik in meinem Kopf erzählt mir, dass es kein Entkommen gibt. Und ich weiß es auch. Ich treibe an die Oberfläche zurück. Noah wird kleiner, sein Atelier verschwimmt. Aber ich weiß jetzt, dort ist das Ziel meiner Reise. Bei ihm will ich sein, bei Noah.
Ich öffne die Augen nicht. Noch nicht. Ich bin wieder zurückgekehrt. Ich sitze genau in der Mitte meines Zimmers. Ich höre, wie mein Bruder die Treppe heraufkommt.
Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt zwischen dem Wissen, was man zu tun hat, und dem Handeln, das darauf folgt. Und manchmal kann sich dazwischen eine unendliche Ebene ausbreiten. Während ich noch immer mit geschlossenen Augen dasitze, versuche ich, die Wegstrecke zwischen mir und den Worten, die ich zu sagen haben werde, abzuschätzen. Sie ist groß. Sehr groß.
Ich bin noch nicht dafür bereit.
Ich stecke die Hand in die Hosentasche und fühle dort Noahs Zettel. Ich kann nicht glauben, dass du ihn geküsst hast. Es wäre so leicht, mich an der Frage festzubeißen, wie er das herausgefunden hat. Aber das ist nur ein spekulatives Ausweichmanöver. Das eigentliche Problem ist: Er sagt die Wahrheit.
Ich öffne die Augen. Ich ziehe meine Hausaufgaben heraus und erledige sie mit noch weniger Begeisterung als sonst.
Ich beschließe, Tony anzurufen. Seine Mutter ist am Apparat.
» Kann ich bitte mit Tony sprechen?«, sage ich.
» Er ist nicht da«, antwortet seine Mutter frostig.
» Wo ist er denn?«, frage ich.
Sie legt auf.
Ich rufe Laura an und bin froh, dass sie nicht bei ihrer Freundin steckt. Ich bitte sie, Tony anzurufen, um zu hören, ob bei ihm alles in Ordnung ist (für ein Mädchen holt ihn seine Mutter bestimmt ans Telefon). Laura erklärt sich sofort bereit, das für mich zu tun, und ruft mich eine Viertelstunde später zurück, um mir zu sagen, dass Tony ziemlich fertig ist, aber dass er es überleben wird. Seine Eltern überwachen jeden seiner Schritte, aus Angst, er könnte sich irgendwo ein paar Küsse einfangen, sobald sie einen Augenblick nicht aufpassen. Die Chance, dass ich ihn in der nächsten Zeit zu sehen bekomme, ist ungefähr so groß, wie dass ich Weltmeister im Schwergewicht werde.
Beim Abendessen bemerken meine Eltern meine düstere Stimmung. Sie versuchen zuerst, darum herumzureden, aber dann packt sie doch die Neugierde, und als wir beim Nachtisch angelangt sind, steuern sie direkt darauf zu.
» Was ist los?«, fragt meine Mutter.
» Alles in Ordnung bei dir?«, sekundiert ihr mein Vater.
» Was hast du denn jetzt wieder angestellt?«, stimmt Jay ein.
Ich erzähle ihnen von der Sache mit Tony.
» Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, bei ihnen eine FELS-Abordnung vorbeizuschicken«, schlägt Jay vor. In unserer Stadt ist FELS (FreundInnen und Eltern von Lesben und Schwulen) so groß wie KELI (Kinder-Eltern-Lehrer-Initiative).
Meine Mutter nickt, während mein Vater über Tonys Eltern nur den Kopf schütteln kann.
Ich verziehe mich schnell in mein Zimmer, bevor ich auch noch anfange, alles über Noah auszuplaudern. Aber Jay entkomme ich nicht so einfach.
Er steckt den Kopf herein und fragt: » War viel los heute, oder?«
» Worauf hast du gewettet?«, frage ich, weil ich mir sicher bin, dass er von Rip alles gehört hat.
» Noch gar nicht«, antwortet er und hält dann eine Sekunde inne. » Aber gib mir doch bitte einen kleinen Tipp, wenn du weißt, in welche Richtung die Dinge sich entwickeln.«
» Mach ich«, versichere ich ihm.
» Kopf hoch, Paul.« Er schließt sachte die Tür.
Ich versuche, mich durch Ablenkung über Wasser zu halten. Ich mache meine Hausaufgaben fertig. Ich lese. Ich gehe runter ins Wohnzimmer und setze mich vor den Fernseher.
Aber das Bild von Anderswo– Noah in seinem Atelier– geht mir nicht aus dem Sinn.
Ich kann nicht glauben, dass du ihn geküsst hast.
Es dauert bis elf Uhr. Erst da fasse ich den Entschluss, dass ich es nicht mehr länger aushalte. Ich weiß, was ich zu tun habe.
Meine Eltern sind schon im Bett und schauen sich auf ihrem Schlafzimmerfernseher einen Krimi an.
» Ich muss noch
Weitere Kostenlose Bücher