Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Ich drehe durch, weil meine Freundschaft mit Joni ein Zehn-Jahres-Tief erreicht hat, und ich drehe durch, weil ihr das völlig gleichgültig zu sein scheint. Ich drehe durch, weil Noah nicht weiß, was ich eigentlich von ihm will, und ich drehe durch, weil ich nicht weiß, was ich ihm dafür als Gegengabe anbieten kann. Ich drehe durch, weil ich in der Klemme sitze– nicht durch jemand anders festgeklemmt, sondern ganz allein aus eigener Schuld. Ich registriere genau, was ich tue. Was mich aber nicht davon abhält, alles nur noch schlimmer zu machen.
Deshalb renne ich fort. Ich renne auf und davon. Zur Tür hinaus. Aus der Schule hinaus.
Aber ich entkomme nicht.
Ich kann nicht entfliehen.
Als ich zu Hause bin, entdecke ich in der Vordertasche meines Rucksacks eine Nachricht von Noah. Irgendwie muss er es geschafft haben, sie dort reinzuschmuggeln, ohne dass ich es gemerkt habe. Weil ich ganz genau weiß, dass ich nach der Mittagspause dort meinen Taschenrechner rausgezogen habe, muss es passiert sein, nachdem wir uns gesehen hatten. Auf dem Zettel steht nur ein Satz, aber ich bin mir absolut sicher, dass es seine Handschrift ist.
Der Satz lautet:
Ich kann nicht glauben, dass du ihn geküsst hast.
Anderswohin
Schon als kleines Kind habe ich gerne eine Übung gemacht, die ich Anderswohin nenne. Es ist fast wie Meditation, nur dass ich mich nicht in weiße Leere auflöse, sondern mir die Welt in Farbe hereinhole. Ich sitze in der Mitte meines Zimmers auf dem Boden und schließe die Augen. Ich stelle Musik an, die mich sofort anderswohin trägt. Ich fülle mein Inneres mit Bildern. Und dann lasse ich die Bilder an mir vorbeiziehen.
Meine Eltern und sogar mein Bruder reagieren darauf ziemlich cool und haben mich noch nie dabei gestört. Sie fragen mich nie, warum ich das immer mal wieder tun muss. Sie respektieren meine verschlossene Zimmertür. Wenn mich jemand anruft, erzählen sie, ich sei gerade anderswo und würde zurückrufen, sobald ich wieder da bin.
Als ich nach Hause komme, ist niemand da. Ich schreibe eine Notiz auf den Block, der bei uns auf dem Küchentisch liegt– Bin anderswo –, und mache dann in meinem Zimmer die Tür hinter mir zu. Ich drehe meine Anlage auf, » Always« von Erasure, und ziehe die Schuhe aus. Ich setze mich genau in den Mittelpunkt meines Zimmers. Ich schließe die Augen. Ich beginne mit Rot.
Die Farben kommen zuerst. Rot. Orange. Aquamarinblau. Blitze aus kompakter Farbe, wie Origami-Papier, auf das der Widerschein eines Fernsehers fällt. Wenn ich mit den Farben durch bin, kommen Muster– Streifen, Dreiecke, Punkte. Manchmal habe ich ein Bild nur für den Bruchteil einer Sekunde vor Augen. Bei anderen verweile ich länger. Auf dem Weg ins Anderswo lege ich kleine Pausen ein. Und dann bin ich angekommen.
Ich habe nie einen Plan für meine Reise. Ich weiß nie, was ich sehen werde, wenn die Farben und Muster vorbeigezogen sind.
Diesmal ist es eine Ente.
Sie taucht mit einem Spritzer aus dem Wasser auf und lockt mich weiter. Ich sehe eine Insel vor mir– die übliche einsame Insel mit kristallblauem Wasser, einem perfekten Sandstrand und einer Palme, die sich hoch in den Himmel wölbt. Ich ziehe mich an Land und liege da, blicke nach oben. Ich fühle, wie Joni anklopft, aber ich lasse sie nicht herein. Wenn ich im Anderswo unterwegs bin, reise ich allein. Muscheln säumen meinen Schatten. Ich strecke meine Hand aus und hebe eine davon auf, halte sie ans Ohr. Eigentlich müsste ich jetzt das Meer rauschen hören. Aber die Muscheln schweigen. Tony geht vorbei und winkt mir zu. Er wirkt glücklich und das freut mich. In der Ferne höre ich Vulkane brodeln, aber ich weiß, dass ich hier sicher und geborgen bin. Die Ente watschelt vor meinen Füßen über den Sand. Ich lache über ihre Bewegungen. Dann lässt sie sich ins Wasser plumpsen und gleitet davon. Ich tauche ein und schwimme ihr nach.
Ich beginne, im Wasser zu versinken. Aber ich ertrinke nicht– ich strample nicht verzweifelt, ich habe keine Angst. Einfach nur eine senkrechte Bewegung nach unten, statt waagrecht auf dem Wasser dahinzugleiten. Ich stoße mich durch das leere Wasser in die Tiefe, ohne zu wissen, was mich dort unten erwartet. Felsen, Fische, vielleicht ein Wrack. Stattdessen treffe ich auf Noah in seinem Atelier, der mit Farben auf eine Leinwand einpeitscht. Ich versuche zu erkennen, was er da malt, aber es gelingt mir nicht. Da weiß ich plötzlich, dass er gar kein Bild malt. Er malt Gefühle, und
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