Noble House 02 - Gai-Jin
sie wie einen Schild trug… Sie schloß die Tür und musterte ihn. »Du siehst fabelhaft aus, Jamie, ein bißchen müde, aber du bist so nett wie immer.«
Er hatte sich aufgerichtet, stand aber immer noch hinter dem Schreibtisch. Seine Gedanken rasten. Mein Gott, du bist es, nicht Tess, ihr seid im Dunkeln leicht zu verwechseln, fast dieselbe Größe, derselbe steife Rücken – er erinnerte sich an seine halbherzigen, negativen Briefe im Lauf des vergangenen Jahres und an den letzten, in dem er ihre Verlobung löste, war im Begriff, mit tonloser Stimme zu sagen: Tut mir leid, Maureen, ich habe dir geschrieben, wir werden nicht heiraten, tut mir leid, ich möchte nicht heiraten, jetzt, da ich auf mich selbst gestellt bin, das ist ein schlechter Zeitpunkt, und warum…
»Ach, Jamie«, sagte sie gerade von der anderen Seite des Zimmers her, und ihr Lächeln vertiefte sich, »du ahnst nicht, wie glücklich ich bin, dich zu sehen, endlich hier zu sein, ach, die Abenteuer, die ich erlebt habe, würden Bände füllen.« Als er sich weder bewegte noch antwortete, runzelte sie leicht die Stirn. »Hast du den Verstand verloren, Junge?«
»Tess!« krächzte er. »Ich… wir dachten, du wärest Tess Struan.«
»Mrs. Struan? Nein, die ist in Hongkong. Sie ist eine so nette Dame, hat arrangiert, daß ich herkommen konnte, ohne dafür einen Penny von mir zu nehmen. ›Besuchen Sie Jamie McFay mit meinen Empfehlungen‹, hat sie gesagt und mich Kapitän Strongbow vorgestellt – der mir eine Kajüte für mich allein gab – und dem netten Dr. Hoag und Mister Neunmalklug Gornt.«
»Eh?«
»Der Knabe bildet sich ein, er sei ein Geschenk Gottes an die Frauen, aber nichts für mich. Ich bin verlobt, hab ich ihm gesagt, verlobt vor Gott mit Mr. Jamie McFay. Er sagte, er sei dein Freund, Jamie, und Dr. Hoag sagte, er hätte dir das Leben gerettet, also war ich nett, hielt aber Distanz. Ach, Lieber, es gibt so viel zu erzählen.«
»O Gott«, murmelte er, »ihr seid leicht zu verwechseln, wenn du das Tuch um den Kopf hast, du und Tess, ihr habt dieselbe Größe…«
»Huh!« sagte Maureen, und ihre Augen schauten plötzlich hitzig. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht den Namen des Herrn unnütz im Munde führen würdest, und sie ist ein Stückchen kleiner und viel dicker und viel älter, und ihr Haar ist grau, meines ist braun, und selbst im Dunkeln bin ich nicht wie sie!« Als ihr plötzliches Lächeln über den eigenen Scherz ihn nicht erreichte, seufzte sie. Verzweifelt blickte sie sich im Zimmer um und entdeckte die Karaffe. Sofort ging sie hin, roch daran, um sich zu vergewissern, daß es Whisky war, verzog angewidert die Nase, goß jedoch ein Glas für ihn und einen Tropfen für sich selbst ein.
»Hier.« Sie sah zu ihm auf, zum erstenmal aus der Nähe, und auf einmal strahlte sie. »Mein Daddy brauchte immer einen Whisky, wenn er über Schottlands Niederlage gegen England im Rugby schockiert war.«
Der Bann brach, Jamie lachte, nahm sie in die Arme, drückte sie an sich, hieß sie willkommen, und beinahe hätte sie den Whisky verschüttet. »Gib acht, Junge«, keuchte sie, und es gelang ihr, die Gläser abzusetzen und ihn verzweifelt zu umarmen – all das Warten, und nun stand sie da, sah seinen Schock und nicht das Willkommen, auf das sie gehofft hatte; sie versuchte, stark und erwachsen zu sein, sie wußte nicht, was sie tun sollte oder wie sie sagen sollte, daß sie ihn liebte und den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren… also hatte sie auf Gott vertraut, ihr Gebetbuch und ihre Bibel und die Derringer ihres Vaters in die Tasche gesteckt und blindlings eine Reise über zehntausend Meilen Angst angetreten. Innerlich. Aber nicht äußerlich – oh, nein, niemals, das ist nicht die Art der Familie Ross!
»Ach, Jamie, Junge, Junge…«
»Alles in Ordnung«, murmelte er und wünschte, sie würde nicht so zittern.
Allmählich ließ ihr Zittern nach, und sie machte sich los, band ihre Haube ab und ließ ihren langen rotbraunen Zopf fallen. »Das ist besser«, sagte sie. »Du bist ein lieber Kerl, danke.« Sie reiche ihm sein Glas, nahm ihres, und sie stießen an. »Auf Schottland«, sagte sie und nahm einen Schluck. »Das schmeckt gräßlich, Jamie, aber ich bin mächtig froh, dich zu sehen, ich kann’s nicht anders ausdrücken.«
Ihr Lächeln war jetzt zögernder, und etwas von ihrer Zuversicht war verschwunden. Seine Umarmung war die eines Bruders gewesen, nicht die eines Liebhabers, o Gott, o Gott, o
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