Noble House 02 - Gai-Jin
dich, dachte er. Sie ist nicht dein Problem.
Kapitän Strongbow in seiner schweren Seejacke war als erster auf dem Kai. Noch immer war es schwierig, ihn deutlich zu sehen, aber er war nicht zu verkennen. Dann, ach ja, MacStruan. Sie drehten sich um und halfen ihr hinauf. Sie war gegen die Kälte vermummt, steifrückig, dunkle Kleider und dunkle Haube, mit dem unvermeidlichen dicken Schal festgebunden. Scheiße!
Dann kletterten auch die beiden anderen Passagiere auf die Pier. Nachdem er sie erkannt hatte, ging er über den Gang ins Büro des Tai-Pan. Angélique spähte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in die Dunkelheit hinaus. Die Lampen waren angezündet, der Raum behaglich. »Ah, Jamie, ich kann sie nicht genau sehen. Ist sie da?«
»Ich fürchte, ja.« Er sah keine Veränderung in ihrem Ausdruck. »Hier.« Er bot ihr sein Glas an. »Vielleicht möchten Sie das haben.«
»Ich brauche nicht zu schauen oder mich zu fürchten, Jamie. Wer noch?« Ihre Stimme klang so dünn wie nie zuvor. »Wer ist bei ihr?«
»Strongbow, Hoag und Gornt.«
Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, aber einen Moment lang hatte er die Freude gesehen, die in ihrem Gesicht aufleuchtete. Es macht nichts, wenn Jamie es gesehen hat, dachte sie, schwindlig vor Erregung. Diese Frau und Edward zusammen? Sie beide zusammen, und Hoag auch! Spricht das nicht für Edwards Erfolg, dafür, daß er sie überzeugt hat? »Ich werde oben sein und mich zum Dinner umkleiden. Wenn mich jemand sehen möchte, komme ich wieder nach unten. Danke, lieber Jamie.« Impulsiv umarmte sie ihn und eilte hinaus.
Er starrte ihr nach. Warum die Freude? Wenn Tess mit Hoag zusammen gekommen ist, dann ist jetzt die schwere Artillerie eingetroffen.
Verwirrt ging er in sein Büro zurück, ließ die Tür angelehnt und fuhr fort, Papiere und Bücher einzupacken. Seine Finger arbeiteten, aber seine Gedanken waren anderswo: bei Tess, der Zukunft, dem Shoya, Nemi heute nacht, dem Noble House, dem er zwanzig Jahre gegeben hatte – sei ehrlich, eigentlich willst du nicht gehen, und du weißt, daß es ein schlechter Zeitpunkt ist, sich selbständig zu machen. Er dachte an Angéliques düstere Zukunft, an das morgige Treffen mit dem schweizerischen Gesandten und mögliche Importe aus ihren Waffen- und Uhrenfabriken, alles vermischt mit der unglaublichen Nachricht von der Zusammenkunft mit Yoshi, Babcott und Tyrer, die jetzt in Edo waren, den Silberbarren, die die Bakufu korrekt und bereits gezählt vorgestreckt hatten – und an Nakama, den armen Kerl.
Armer Kerl? Er ist ein Mörder, und zwar von der schlimmsten Art. Ich habe das nie gespürt, habe mich kein einziges Mal bedroht gefühlt. Er muß in Drunk Town oder irgendwo in der Yoshiwara sein. Wenn die Nachricht für uns überraschend kam, muß ihm jemand etwas geflüstert haben, und er ist geflohen. Verdammt! Jetzt werde ich Tyrer oder Johann einschalten müssen …
Stimmen in der Halle rissen ihn aus seinen Tagträumen: MacStruan, Vargas, Hoag, herumschwirrende Dienerschaft.
Nicht notwendig, sie zu begrüßen. Man wird mich bald genug rufen lassen. Deprimiert setzte er seine Arbeit fort und war jetzt beinahe fertig.
»Jamie!«
Er schaute sich um. Und war wie gelähmt. Maureen. Seine Maureen in der Tür! Maureen Ross. Marineblaue Winterhaube, blaue Augen, marineblauer Mantel über dunkelblauem Kleid. Maureen Ross, achtundzwanzig Jahre alt. »Allmächtiger«, stammelte er fassungslos mit erstickter Stimme.
»Hallo, Jamie McFay.« Sie stand in der Tür, gerade aufgerichtet wie ihr Vater, und ihre Stimme klang fröhlich. »Bitte, kann ich hereinkommen?« Sie löste den Knoten ihres Halstuchs und lächelte zögernd.
Jetzt konnte er sie sehen. Dasselbe klare Gesicht, nicht hübsch, aber stark und merkwürdig anziehend, haselnußbraune Augen, Sommersprossen, genauso, wie er sie vor etwas über drei Jahren gesehen hatte – am Kai in Glasgow –, obwohl sie damals beim Abschied Tränen vergossen hatte. Er hatte vergessen, wie ihre Augen… »Hallo, Fünkchen«, murmelte er ohne nachzudenken und benutzte dabei ihren Spitznamen. »Großer Gott… Maureen?«
Sie lachte trillernd. »Ich verstehe das als Ja, und du wirst keine gotteslästerlichen Ausdrücke mehr verwenden, mein Junge. Einmal ist in Ordnung, ich tauche ja auch wie ein Geist aus der Nacht auf.« Ihr Lächeln und die Fröhlichkeit ihrer Stimme machten sie attraktiver, als sie in Wirklichkeit war, dazu das Licht, das in ihren Augen tanzte, und die Liebe, die
Weitere Kostenlose Bücher