Noch ein Tag und eine Nacht
Kleid. Wie Aschenputtel. Bring mich fort von hier. Bring mich wieder auf den Ball. Tanz noch einmal mit mir.
Gleich steige ich aus und nehme Reißaus. Ich lasse dir meinen Schuh da, verkleidet als Handschuh. Ist das peinlich.
Donnerstag
Heute tue ich mal so, als würde ich dich nicht bemerken, und werde dich nicht anschauen, bis ich aussteige. Ich lasse dich ein wenig schmoren. Was du dir wohl über mich denkst. Wie ich wohl aussähe, von nahem, in deinen Augen. Ich möchte zu tausend Bläschen verdampfen und mich auf der Scheibe hinter dir wieder zusammensetzen, in der du neulich mein und dein Spiegelbild gesehen hast. Ich möchte noch mal das Bild von mir sein, das ich neulich nicht erkannt habe. Du bist der Abgrund zwischen dem, wie ich mich fühle, und dem, zu was ich geworden bin. Früher, als ich noch nicht so war wie jetzt, hätte ich dich nie gesehen. Du bist die Begegnung zwischen mir und uns. Vielleicht erwarte ich dich irgendwie. Irgendwie habe ich dich erwartet. Ich werde weiter auf dich warten.
Donnerstag
Morgen reise ich ab, ich verlasse diese Straßenbahn mit dir drin. Du hast mir die Kraft gegeben, die Dinge zu verändern, die mir nicht gefielen. Ich habe noch nie mit dir gesprochen, ich weiß nicht mal, ob du so bist, wie ich dich mir vorstelle. Du warst der Träger von Gefühlen, Gedanken, Wünschen. Du warst Kraft, Muskel, Aktion. Ich lasse dich hier sitzen, auf diesen morgendlichen Fahrten, verlasse dich und nehme dich für immer mit mir. Ich lade dich auf einen Espresso ein.
Wieso hast du dich meiner Sehnsucht so schnell zu erkennen gegeben?
Wie viele Löffel Zucker möchtest du in »meine« Tasse?
Je weiter ich las, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich, ohne es zu ahnen, ihrem Plan gefolgt war. Der offensichtlichste Beweis dafür stand auf der letzten Seite. Datiert auf den Tag, an dem sie das Flugzeug nach New York genommen hatte.
…gestern haben Giacomo und ich einen Espresso getrunken. Er ist sehr süß und sympathisch, nur vielleicht ein bisschen tollpatschig. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, spürte ich plötzlich das Verlangen, ihn zu küssen, doch ich stand lieber auf und tat so, als müsste ich auf die Toilette. Den Umschlag ließ ich auf dem Tisch liegen. Ich hoffte, er hätte den Wunsch und den Mut, sich die Adresse zu notieren, er hatte ja nicht mal nach meiner E-Mail-Adresse gefragt. Jetzt bin ich weg, und ich weiß nicht, ob ich ihn noch mal wiedersehen werde. Wie dem auch sei, es war schön, mit diesem Schicksal zu spielen. Bevor ich heute durch die Passkontrolle ging, habe ich mich kurz umgedreht. Ich hatte gehofft, er würde kommen und sich von mir verabschieden. Ich hab mich mehrmals umgedreht, meinem Bruder ist das auch aufgefallen, er fragte mich, ob ich auf jemanden warte. Nein, sagte ich. Von uns beiden weiß nur ich.
Vielleicht hätte ich ihn darum bitten sollen, mir seine Adresse, Nummer oder E-Mail zu geben. Vielleicht ist es nur weiblicher Stolz. Du hast sechs Monate, um mich anzurufen, ausfindig zu machen oder zu mir zu kommen. Danach werde ich dir dieses Heft schicken, doch dann wird es keinen Sinn mehr haben, dass wir uns wiedersehen.
Ich wusste nicht, ob ich glücklich sein oder mir wie ein Volltrottel vorkommen sollte. Es war, als säße ich in der Falle, als wäre ich einem Weg gefolgt, den sie vorgegeben hatte, wie eine Laborratte. Während ich zu Hause wochenlang mentale Verrenkungen veranstaltet hatte, hatte sie einfach hier auf mich gewartet.
Schließlich war ich aber doch froh. Die Empfindungen, die ich morgens in der Straßenbahn gehabt hatte, waren nicht einfach nur in meinem Film vorgekommen, sie waren Wirklichkeit.
Ich stand auf und ging, ihr Heft in der Hand. Um fünf würde ich zurückkommen. Ich war glücklich, und mein Kopf war leicht. An diesem Morgen konnten die Menschen, die mir auf den Gehwegen von Manhattan begegneten, sehen, wie man mit den Beinen lächeln kann. Mit das Tollste daran, im Ausland zu sein, ist die Anonymität. Die Tatsache, dass man niemandem begegnet, der einen kennt. Keine Freunde, Nachbarn, Kollegen, Leute aus dem Fitnessstudio oder so. Niemand weiß, wer du bist, welchen Job du hast, wo du wohnst. Niemand kennt dich, und du kennst auch niemanden.
Das erlaubt mir, Dinge zu tun, die ich an Orten, wo man mich kennt, nicht tue. Wenn ich durch meine Stadt laufe, fällt mir oft auf, dass ich ein Lied vor mich hin trällere und mich plötzlich dafür schäme. Wie albern. Ich breche sofort ab, aus Angst,
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