Noch ein Tag und eine Nacht
noch nie das Tagebuch einer Frau gelesen. Einmal, ich war so um die zwanzig, hat mich ein Mädchen, mit dem ich eine Zeitlang zusammen war, ein paar Seiten aus ihrem lesen lassen. Sie hieß Luisa. Auf einer der vielen Seiten, die sie Abend für Abend vollschrieb, beschrieb sie das eine Mal, als ich vergessen hatte, Kondome mitzubringen. Ich wusste, dass sie in den superfruchtbaren Tagen war, und traute mich nicht. Deshalb sagte ich, wir hätten nicht so viel Zeit und sollten lieber warten, bis wir es ohne Eile machen könnten. Völliger Schwachsinn. Auf dem Heimweg hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich die Kondome vergessen hatte. Im Tagebuch wurde dieses Ereignis als Beleg dafür gedeutet, dass es für mich um mehr ging als um Sex. Ach, die Frauen…
Luisa tat etwas, das mich nervte. Ich mag es durchaus, wenn eine Frau mich auf die Augen küsst, doch sie hatte die schreckliche Angewohnheit, sie mit speicheltriefender Zunge abzulecken; der Speichel war so kompakt, dass ich hinterher Schwierigkeiten hatte, die Augen zu öffnen, weil die Wimpern so nass und schwer waren. Sie hatte Schnecken im Mund.
Aufgeregt hielt ich Michelas Tagebuch in meinen Händen. Bevor ich es aufschlug, besah ich es von allen Seiten. Es ließ in mir gleich ihr Bild in der Straßenbahn erstehen, ich sah sie wieder vor mir, wie sie schrieb. Wie hatte ich mir damals gewünscht zu erfahren, was sie schrieb. Ich öffnete das Heft wie eine heilige Schrift. Nun konnte ich in das Geheimnis jener Morgen eintauchen.
Ich war allgegenwärtig. Sie schrieb nur über mich, was ich anhatte, ihre Phantasien über mich. Ich bin ein passionierter Leser. Und hier ging es um mich, was das Ganze noch spannender machte. Einige Stellen überraschten mich.
Donnerstag
Ich schreibe in dieses Heft. Ich hebe den Kopf nicht, doch ich spüre, dass du mich anschaust. Ich spüre deine Augen auf mir. Sie liebkosen mich, durchdringen mich. Wenn du mich anschaust, wächst in mir das Verlangen, mich zurechtzumachen. Ich komme mir schlampig vor, so schlampig kann sich nur eine Frau gegenüber einem Mann fühlen.
Wenn dein Blick mir eine Pause gönnt, versuche ich, Bilder von dir zu stehlen. Heute bist du nicht bei der Sache. Einerseits macht mir das Angst, ich könnte nicht mehr interessant sein, andererseits kann ich dich so etwas mehr anschauen. Heute Morgen habe ich, sooft ich konnte, bei deinen Händen verweilt. Schöne Hände, Hände ohne Buch heute, aber voller Worte.
Dienstag
Ich habe mir angewöhnt, deine Haltestelle abzusuchen, wenn sich die Bahn nähert. Aber ich halte es nicht immer aus. Manchmal schließe ich die Augen und öffne sie erst wieder, wenn die Bahn anfährt. Ich suche nach dir, unter all den uninteressanten Gestalten. Heute bist du da. Du wirkst, als hättest du nicht geschlafen, du siehst noch besser aus. Deine Haare sind strubbelig, ungekämmt. Ich kämme sie mit unsichtbaren Händen, und dann, wenn du schön ordentlich aussiehst, wuschele ich sie mit einem Kuss wieder durcheinander. Ich wuschele mit meiner Hand deine Gedanken.
Heute bist du eingestiegen und stehst vor mir. Ich werde nicht aussteigen. Du auch nicht, bitte. Lass uns bis zur Endstation fahren. Bis ans Ende. Ans Ende dieser Fahrt. Wo ein neuer Atemzug beginnt. Lass uns hier bleiben, als unendliche Spiegelbilder.
Freitag
Wenn es stimmt, dass die Begegnung zweier Menschen dazu führt, dass beide sich verändern, was würde dann mit uns geschehen, wenn wir uns wirklich träfen? Wenn wir jetzt miteinander sprächen?
Wer bist du, wie bist du ohne mich? Und wie wärst du nach unserer Begegnung?
Und ich? Was würde sich in meinem Leben verändern, zu was würde ich, das ich heute nicht bin?
Heute wäre ich mit diesen Fragen zu keinem Schluss gekommen, wenn ich dich nicht wenigstens einen Augenblick lang gesehen hätte.
Du könntest mich aus dem Gleichgewicht bringen. Mein Chaos ins Gleichgewicht bringen.
Montag
Als ich heute den grauen Himmel sah, konnte ich nicht mehr atmen. Luft fand ich nur im Korb meiner Spiele. Ich habe sie mitgebracht, um zu überleben. Willst du mit mir spielen? Such einfach aus, irgendwas. Nur nicht das Spiel der Gleichgültigkeit, das ist heute verboten. Dieses Spiel hat uns schon der Himmel gestohlen. Lass uns Versteck spielen. Ich verstecke mich, du suchst mich, und wenn du mich findest, mache ich mich ganz klein, dann kannst du mich in deine Hemdtasche stecken. Oder wir spielen nicht Verstecken, sondern dass ich mich zeige.
Ich trage ein langes
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