Noch ein Tag und eine Nacht
Namen nennen, wenn wir uns doch um fünf sowieso trafen? Musste man sich registrieren lassen, um einen Kaffee mit ihr zu trinken?
Am nächsten Morgen um sieben war ich putzmunter. Ich arbeitete eine Stunde am Computer, dann überlegte ich, dass ich das genauso gut in einem Café tun könnte, zum Beispiel im Doma, da konnte ich vielleicht sogar einen heimlichen Blick auf sie erhaschen. Nur um zu testen, welchen Eindruck sie auf mich machte. Um die Aufregung zu kanalisieren, um nicht bei der ersten Begegnung zu explodieren und zu sterben.
Wie immer setzte ich mich an das Tischchen am Eingang. Praktisch ins Schaufenster. Statt zu arbeiten, saß ich starr und unbeweglich da und glotzte wie eine Eule auf das Bürogebäude.
Das Doma war wirklich hübsch. Dielenfußboden, an den weißgestrichenen Backsteinmauern hingen Bilder eines unbekannten Künstlers. Ich sehe lieber Originale als Drucke oder Reproduktionen berühmter Bilder. Mitten im Raum standen zwei Säulen, die ebenfalls weißgestrichen waren. Die Holztheke war alt und mit lauter Kuchen, Muffins, Gebäcken sowie mehreren Tischlampen vollgestellt. Daneben listete eine große Schiefertafel die Speisen auf.
Die Musik kam aus einem iPod, der mit Boxen verbunden war, und war wunderbar abwechslungsreich: Nina Simone, Crosby & Nash, Carole King, R.E.M., Sam Cooke, Janis Joplin, John Lennon, Cindy Lauper.
Die rund zehn Tische hatten unterschiedliche Abmessungen. An den größeren saßen zum Teil Leute zusammen, die sich nicht kannten. Die Stühle sahen aus, als stammten sie aus ausgemisteten Kellern und Speichern. Ich schaltete den Computer ein und arbeitete weiter, was mir aber nicht leicht fiel, denn ich ließ mich ständig von meiner Umgebung ablenken. Viele lasen Bücher, manche schrieben mit dem Stift, andere mit Computer. Ein Mädchen machte Fotos, auch von den Leuten an den Tischen. Niemand beschwerte sich. Wir waren Unbekannte und doch Komplizen. Die Zeit an diesem Ort schien im Rhythmus der langsam sich drehenden Flügel der beiden Ventilatoren zu vergehen.
Ich bestellte ein Stück Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee. Der Kuchen war mit Zimt gewürzt. Die New Yorker tun oft Zimt ins Gebäck, allein deshalb würde ich gerne hier leben.
Ich konnte einfach nicht arbeiten. Also beschloss ich, sie von der Telefonkabine aus auf dem Handy anzurufen. Unser erstes Telefonat. Hoffentlich störte ich nicht.
»Ciao, hier ist Giacomo.«
»Ciao, wie geht’s? Hast du meine Nachricht bekommen? Musst wohl, wenn du mich anrufst; entschuldige, ich bin ein bisschen benebelt heute Morgen. Und, sehen wir uns nachher?«
»Ja, klar. Ich wollte nur sichergehn, vielleicht hat das Mädchen im Hotel es nicht richtig verstanden… ich soll also vorher vorbeikommen?«
»Wenn’s geht, ja. Ich habe beim Pförtner etwas für dich hinterlegt, aber wenn du es nicht schaffst, bringe ich es mit.«
»Nein, nein, ich hab frei heute. Ich komme. Hoffentlich findest du es nicht zu aufdringlich, dass ich anrufe, aber weißt du, ich war grad in der Gegend, und da dachte ich… Ich hoffe, du bekommst deswegen keine Schwierigkeiten.«
»Nein, nein, ich freue mich, gut, dass du angerufen hast. Ciao, bis nachher.«
»Ciao.«
»Hast du kein Handy?«
»Nein, es ist mir ins, äh… hingefallen, die SIM-Karte funktioniert nicht mehr.«
Aus der Pförtnerloge lächelte mich ein Koloss von Farbigem an und händigte mir einen Umschlag aus.
For Giacomo.
Ich nahm den Umschlag, quittierte den Empfang, bedankte mich und ging zurück ins Café, wo ich einen Obstsalat bestellte. Ich weiß noch, dass Wassermelone drin war, was ich nicht mag. Meine Oma aß Wassermelone immer mit Brot, das habe ich nur bei ihr gesehen. Dann sagte sie immer: »Wie großzügig die Natur ist. Schau, so viele Samen in einer einzigen Frucht. Das nennt man das Leben lieben.« Von da an konnte ich nie mehr Wassermelone essen, ohne an ihre Worte zu denken. Ich erinnere mich auch daran, dass Oma die Wassermelone immer ohne Cellophan in den Kühlschrank stellte, und wenn ich später davon aß, hatte sie wie ein Schwamm die Aromen aller anderen Speisen aufgenommen.
Als ich mich setzte und den Umschlag öffnete, erkannte ich sofort, was er enthielt: das orangefarbene Heft, in das Michela morgens in der Straßenbahn so oft geschrieben hatte. Ein Zettel lag bei: WENN DU NICHT INNERHALB VON SECHS MONATEN GEKOMMEN WÄRST, HÄTTE ICH ES DIR GESCHICKT. WIR SEHEN UNS UM FÜNF UHR UNTEN. ANGENEHME LEKTÜRE. MICHELA.
Das Tagebuch
Ich hatte
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