Noch ein Tag und eine Nacht
insgesamt nur wenige Tote und Verletzte.«
Nach diesem Gespräch über unsere Vergangenheit ging sie zur Arbeit, und ich streifte wie immer durch New York. Diesmal landete ich im Chelsea Market auf der 9th Avenue zwischen 15th und 16th Street und aß dort zu Mittag. Ein wunderbarer Ort: Am liebsten würde man alles kaufen, was dort angeboten wird, und sich durch sämtliche Restaurants und Bars durchfressen. Da gibt es die Fleischerei Frank’s Butcher Shop mit Restaurant, die Suppen von Hale and Hearty Soups, das Thai-Restaurant Chelsea Thai oder auch Amy’s Bread und die Fat Witch Bakery, wo ich einmal einen traumhaften brownie gegessen habe. Außerdem gibt es das Buon Italia, ein Geschäft mit italienischen Produkten, und ganz hinten links den T Salon, wo es nach allen Teesorten der Welt duftet.
Diesmal ging ich in den Lobster Place, eine Fischhandlung, wo man nicht nur frischen Fisch kaufen kann, sondern auch kleine Mahlzeiten angeboten werden. Kleine Teller mit Krabben, Sushi, Fischsuppe, Salate mit Thunfisch oder Lachs. Für Fischliebhaber ein wahres Paradies. Am Chelsea Market würde ich gerne wohnen. Sogar Kunstwerke werden dort ausgestellt. Ich aß Sushi und eine Riesenportion Garnelen.
Dann rief ich Michela an, weil ich gesehen hatte, dass in der New York Philharmonic am Abend Rachmaninow und Schumann gespielt wurde.
»Hast du Lust, ins Konzert zu gehen?«
»Gern.«
»Meinst du, dass ich mir dafür einen eleganten Anzug kaufen muss?«
»Ich glaube, das ist nicht nötig.«
»Schade, wir beide in eleganter Abendkleidung, das würde mir gefallen.«
»Das lässt sich machen, wenn du Wert darauf legst, ich habe ein Abendkleid und du, du brauchst dir nichts zu kaufen, einen Anzug für heute Abend kannst du dir doch ausleihen.«
»Stimmt, darauf bin ich gar nicht gekommen. Also abgemacht?«
»Ja.«
»Ich mach mich schick und hole dich um acht Uhr ab.«
Gesagt, getan. Als ich mit dem Taxi vorfuhr, trug ich einen schwarzen Anzug und sie ein rotes Abendkleid, rückenfrei, und eine schmale Perlenkette. Sie sah atemberaubend aus. Am liebsten wäre ich sofort umgekehrt und mit ihr nach oben gegangen, direkt ins Schlafzimmer. Ihre Brüste, die durch das Kleid noch betont wurden, waren so verlockend wie der Weg nach Hause, und ihr strahlendes Gesicht war wie das Aufwachen an einem vertrauten Ort.
Das mochte ich an Michela, mit ihr konnte man überall hingehen, an nichtssagende oder schäbige Orte ebenso wie an elegante. Problemlos konnte sie hochhackige Pumps gegen Turnschuhe tauschen, Jeans gegen Abendkleid, ohne sich je zu verändern. Sie blieb immer sie selbst, in allen Situationen. Sie war die richtige Frau für mich, wenigstens für die paar Tage.
Das Konzert war aufwühlend. Als die 2. Symphonie erklang, griff Michela nach meiner Hand, und einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, dass wir uns vor Schreck aneinander festhielten, wie Frauen es oft tun, wenn sie einen Horrorfilm sehen. Womöglich empfanden wir genau das. Alles war so zerbrechlich, überwältigend und wunderbar, dass es uns Angst einjagte.
Zu Hause angekommen, fiel ich noch im Flur über sie her, wir machten es im Stehen. Natürlich ohne ihr das Kleid auszuziehen.
Das Bad (-2)
Noch zwei Tage bis zu meiner Abreise. Es war Freitag morgen. Mein Flug ging am Sonntag. Ich hatte bei ihr übernachtet, und als ich aufwachte, war sie schon zur Arbeit gegangen. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel: »Stell dir mal vor, was wir alles verpasst hätten, wenn wir uns nicht getraut hätten. Du bist viel mehr, als ich mir vorgestellt hatte. Bis später. Deine Frau. PS : Wenn du schläfst, siehst du aus wie ein Kind.«
Ein Wort war durchgestrichen. Ich hielt den Zettel gegen das Licht, um herauszufinden, welches.
Durchgestrichene Wörter finde ich weit spannender als alles, was klar und deutlich dasteht, denn beim Durchstreichen geht es, glaube ich, nicht um Rechtschreibfehler, sondern um eine Vertraulichkeit, die man hinterher bereut. Ein Tick von mir, den ich schon immer hatte, keine Ahnung, ob ich das jemals ablege.
Ich verbrachte mehrere Stunden im Bett, denn ich hatte keine Lust auszugehen. Das Wetter war schlecht. In New York ändert sich das Wetter rasend schnell. Manchmal ist es bedeckt, oder es regnet, und einen Augenblick später kommt die Sonne heraus. Entscheidend ist der Wind: Wenn es kalt und windstill ist, ist die Luft frisch, prickelnd und belebend, wenn aber der Wind weht, peitscht er ins Gesicht, man kommt sich vor wie im Krieg.
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