Noch ein Tag und eine Nacht
Wer weiß, wie Oma das empfunden hätte, mit ihren wetterfühligen Beinen.
Auch in dieser Nacht hatte ich meinen üblichen Traum geträumt, den aus meiner Kindheit. Ich bin ein kleiner Junge und soll im Hof der Kirche einen Elfmeter schießen. Das Tor ist leer, weit und breit kein Torhüter, doch hinter dem Netz steht mein Vater und beobachtet mich. Ich habe Angst, nicht zu treffen. Meist wache ich auf, bevor ich geschossen habe, manchmal schieße ich aber auch. Seit über zwanzig Jahren schieße ich nun diesen Elfmeter, aber ich habe noch nie getroffen. Ich schieße, und der Ball geht vorbei, manchmal fliegt er nur einen Meter weit und bleibt dann liegen. Aber jedes Mal geht mein Vater weg.
Immer noch im Bett schalte ich den Fernseher ein. Alle Werbespots endeten mit der Zahl 99. Sechs Dollar 99, neun Dollar 99, neunzehn Dollar 99…
Mein einziger Programmpunkt für diesen Tag war, den Anzug zurückzubringen. Dann kam mir eine Idee, und ich schickte Michela eine SMS: »Kannst du heute Abend nach der Arbeit zu mir ins Hotel kommen?«
Fünf Minuten später kam die Antwort: »Okay… ich ruf dich an. Wahrscheinlich so gegen sieben. Heute keine Mittagspause. Ich bin in einer stinklangweiligen Sitzung. Auch wenn du mich nicht sehen kannst, sollst du wissen, dass ich dieses Kleid nur für dich trage.«
Später brachte ich den Anzug zurück und ging etwas essen, im Paprika am St. Marks Place, zwischen 1st Avenue und Avenue A. Anschließend kaufte ich Kerzen, einen Schwamm und ein paar Dübel. Dann kehrte ich in Michelas Wohnung zurück. Beim Duschen war mir aufgefallen, dass Shampoo, Duschgel und der ganze andere Kram bei ihr im Bad auf dem Boden standen. Ich lieh mir beim Portier eine Bohrmaschine aus und befestigte den Seifenhalter in der Dusche. Den sogenannten Seifenhalter, denn eigentlich befand sich darauf alles Mögliche, nur keine Seife. So konnte ich endlich in die Dusche pinkeln, ohne dass es auf die Flaschen prasselte und ich riskierte, wegen des Krachs erwischt zu werden. Bei manchen Frauen weiß man nicht, womit man sich waschen soll. Alles voller Cremes und Balsam für die Haare. Einmal habe ich nicht aufgepasst und mich mit so einem Haarbalsam gewaschen. Danach kam ich mir vor wie ein Plüschtier, und meine Schamhaare wären ohne weiteres als Spatzennest durchgegangen.
Als ich mit meiner Heimwerker-Ehemann-Aktion fertig war, ging ich wieder. Doch als ich dann so vor mich hin trottete, kamen mir plötzlich Bedenken, ob meine Aktion nicht vielleicht zu aufdringlich war. Und wenn sie sich dann womöglich aufregt, weil ich vorher nicht gefragt habe? Wenn sie das nicht als nette Geste empfindet? Wenn sie plötzlich das Spiel vorzeitig abbrechen will? Was soll’s, scheiß drauf.
Auf meinen Streifzügen durch Manhattan kam ich oft an Lokalen oder Straßen vorbei, wo ich mit Michela gewesen war. In dieser neuen, unbekannten Welt erschienen mir diese Orte wie vertrautes Terrain. Wie gefühlsmäßig besetzte Punkte, die mir halfen, mich zu orientieren. Auch in emotionaler Hinsicht war ich ein Tourist, der zum ersten Mal die Welt der Liebe erkundet. New York war zur Metapher geworden für all das, was sich in meinem Inneren abspielte. Ein bisschen kannte ich mich zwar aus, wie in meiner Gefühlswelt, aber diesmal war ich in tiefere Schichten vorgedrungen, und alles wirkte auf mich noch unbekannter, noch geheimnisvoller, noch tiefgründiger. Wenn ich einen Ort wiedererkannte, an dem ich mit Michela schon gewesen war, stellte sich sofort dieses Wir-Gefühl ein, sie und ich.
Ich ging noch einmal zu der Stelle, wo wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, und schickte ihr von dort eine SMS : »Ich war noch einmal in der Minetta Street. Da lagen ein paar von unseren Küssen auf dem Boden, die habe ich aufgehoben und eingesteckt. Erinnere mich heute Abend daran, dass ich sie dir gebe.«
Dann setzte ich mich in ein Café in der Nähe des Hotels, trank einen Kaffee und arbeitete ein bisschen am Computer, denn es gab dort einen Hotspot.
Nach einer Weile rief Michela an und sagte, sie komme in einer halben Stunde. Ich beeilte mich, rannte auf mein Zimmer und bereitete alles vor: Ich ließ Wasser in die Wanne laufen, goss Badeschaum hinein, legte den Schwamm bereit und schrieb auf den Spiegel: Enjoy the bath. Dann zündete ich noch ein paar Kerzen an, ließ die Tür angelehnt und ging.
Ich versteckte mich in der Eingangshalle und wartete auf sie.
Mir gefiel die Vorstellung, dass sie sich nach einem harten Arbeitstag
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