Noch einmal leben
zugänglich machen? Ich kann dich heute abend noch zu St. John bringen.“
„Du meinst, ich soll Kravchenko löschen lassen, damit ein anderer sein Bewußtsein tragen kann?“
„Nicht direkt“, antwortete sie. „Ich meine vielmehr, daß du ihm gestattest, dich zu übernehmen; damit ich ihn direkter in deinem Körper haben kann.“
Noyes war von dieser Forderung so bestürzt, daß Kravchenko es fast geschafft hätte, ihn auf der Stelle zu übernehmen. Noyes mußte sich gehörig anstrengen, um die Kontrolle wiederzugewinnen. Noch nie zuvor hatte er eine derart wuchtige Attacke aufsein eigenes Ich erlebt. Ganz ruhig und gelassen hatte Elena ihn zum Selbstmord aufgefordert – zu ihrer eigenen Befriedigung! Seine Lippen zuckten unkontrolliert. Erst nach einer Weile konnte er wieder sprechen. „Du hast kein Recht, so etwas von mir zu verlangen. Nur ein Wahnsinniger kann glauben, ich würde«i etwas tun!“
„Tatsächlich? Warum trägst du dann immer diese Giftampulle bei dir?“
„Also …“
„Mach dir doch nichts vor! Jeder kennt deinen Hang zum Selbstmord. Jetzt ist dein großer Augenblick gekommen, Charles. Jetzt kannst du etwas Sinnvolles tun. Bring Jim Kravchenko wieder in die Welt, die er so liebt, und befreie dich von der Welt, die du so haßt. Obendrein kannst du auch noch deinen Verpflichtungen Roditis gegenüber nachkommen, indem du St. John triffst. Es ist die perfekte Lösung für alle Seiten, oder etwa nicht?“
In betäubtem Schweigen überdachte Noyes die Symmetrie, die in Elenas Vorschlag steckte. Es stimmte ja, daß er mit sich selbst ausgemacht hatte, die Carniphagekapsel zu schlucken, sobald er seine letzte Arbeit für Roditis erledigt hatte. Und Elena schien irgendwie begriffen zu haben, daß er sich selbst nur noch als überflüssig ansah. Was machte es auf lange Sicht schon für einen Unterschied, welchen Abgang er nahm? Die Einnahme des Gifts wäre eine kleine Rache an Kravchenko für all die Qualen, die dieser ihm bereitet hatte. Aber innerhalb kurzer Zeit konnte Kravchenkos Bewußtsein wieder in einen anderen Körper verpflanzt werden. Damit war Charles’ Rache hinfällig geworden. Auf der anderen Seite trat er großzügig beiseite, um Kravchenko seinen Körper zu überlassen; aber nicht für Jim, sondern für Elena.
Und trotzdem, das Ganze war so erniedrigend – da bekam man von einer Frau vorgeschlagen, sein eigenes Fremdbewußtsein zu einem Dybbuk zu machen. Hielt sie ihn wirklich für so wertlos? Ja. Ja, das tat sie tatsächlich, gestand er sich niedergeschlagen ein. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, die tradierten Werte fallenzulassen und es mit List und Tücke zu versuchen. Er konnte Elena alles versprechen und sich später noch einmal überlegen, was er davon einhalten wollte. Im Moment kam es vor allem darauf an, mit St. John zusammenzutreffen.
Mit schwerer Stimme sagte er: „Du verlangst einen stolzen Preis.“
„Das weiß ich. Aber er hat auch seine Berechtigung, nicht wahr?“
„Ja, stimmt.“ Unruhig lief er im Zimmer umher und ballte die Fäuste. „Also gut“, sagte er, „zum Teufel nochmal, ich sage ja! Du sollst deinen Jim Kravchenko haben!“
„Abgemacht?“
„Ja, abgemacht. Wo steckt dieser Martin St. John?“
„Er wurde in Mark Kaufmanns Apartment in Manhattan gebracht.“
Noyes keuchte. „Das hätte ich mir ja denken können. Aber wie soll ich denn dort mit ihm reden, Elena! Ich kann doch nicht einfach bei ihm reinspazieren und …“
„Mark ist gestern nach Kalifornien geflogen – geschäftehalber“, sagte die Italienerin. „Vor morgen ist er nicht zurück. Und seine Tochter hält sich noch immer in Europa auf. Im Haus gibt es niemanden außer St. John und den Robotdienern, die nach ihm schauen. Ich kann dich ja schnell hinbringen.“
„Dann mal los“, sagte Charles.
Sie entledigte sich ihrer Robe ohne das geringste Schamgefühl und kleidete sich statt dessen in luftige Sprayon-Gewänder. Dann verließen sie das Apartment. Der Gleiterflug nach Manhattan verlief rasch. Noyes kam sich vor wie in einem Traum, wo alle Ereignisse mit unglaublicher Schnelligkeit und Leichtigkeit auf einen vorbestimmten Höhepunkt zustreben.
Vor Mark Kaufmanns Apartmenttür drückte Elena den Daumen auf eine Platte. Aber die Tür öffnete sich nicht. „Ich besitze nicht das Privileg, hier ständig ein und aus zu gehen“, erklärte Elena. „Ein Computer stellt jetzt fest, daß ich es bin und überprüft, ob ich heute Zugang habe. Wenn keine
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