Noch einmal leben
eines Toten bewohnt wurde, nochmals den Tod finden sollte. Danach wollte er, falls er den Mut dazu aufbrachte, endlich das Carniphage einnehmen. Dann hätte er auch mehr Berechtigung dazu als im Augenblick. Sich einem unerledigten Auftrag zu entziehen, gehörte ganz und gar nicht zur Arbeitsweise eines Charles Noyes.
Dann begriff er, daß er gerade seine vornehme Neuenglandabstammung dazu benutzt hatte, einen Mord zu rechtfertigen.
Wenn es denn sein muß, sagte er sich, dann soll es eben so sein.
Die Bremsraketen heulten auf: das Flugzeug landete in New York. Kravchenko höhnte wie gewöhnlich, als er seine falsche Trauer über Noyes’ feige Hand zum besten gab, die sich wieder von der Brusttasche entfernte. Aber Charles wußte, daß Kravchenko den komplexen Prozeß, der sich zur Entscheidungsfindung in seinem Innern abgespielt hatte, gar nicht mitverfolgt haben konnte. Das Fremdbewußtsein bemühte sich einfach ständig, Charles aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen und ihn unsicher zu machen. Es lag ja gar nicht in Kravchenkos Interesse, Noyes zum Selbstmord zu überreden. Er wollte ihn nur zu einem Nervenbündel und damit so schwach machen, daß er seinen Wirt mit einem plötzlichen Angriff übernehmen, ihn dann ausstoßen und zu einem Dybbuk machen konnte.
Noyes fragte sich, wo Martin St. John wohl zu finden sei.
Im Einwohnermeldeamt konnte er sich kaum erkundigen, denn St. John war Engländer und somit hier nicht registriert. Santoliquido wußte sicher, wo Martin sich aufhielt. Aber Noyes wollte es tunlichst vermeiden, den Direktor des Scheffing-Instituts auf sein Vorhaben aufmerksam zu machen. Jeder konnte sich schließlich denken, daß der Grieche ganz wild darauf sein mußte, Paul Kaufmann aus seiner gegenwärtigen Existenz zu „befreien“. Und da jeder wußte, wie Noyes zu Roditis stand, würden seine plötzlichen Nachforschungen in Sachen St. John alle Erfolgsaussichten mit einem Schlag zunichte machen.
Noyes beschloß, Elena zu fragen.
Sie schien alles über jeden zu wissen. Elena war wie ein Knotenpunkt, der seine Tentakel in alle Richtungen ausstreckte: einen zu Mark Kaufmann, einen anderen zu Santoliquido und einen dritten zu Charles Noyes. Ein bis zwei Tentakel hob sie sich noch für Roditis auf. Elena mußte eigentlich den Aufenthaltsort von St. John kennen.
Sie bewohnte ein Apartment in New Jersey, das auf ihren Namen eingetragen war. Noyes machte sich wenig Hoffnungen, sie dort anzutreffen, aber wo sollte er sonst mit seinen Nachforschungen beginnen. Vom Flughafen aus rief er bei ihr an und war überrascht, daß abgehoben wurde.
Elenas Privatkode erschien auf dem Bildschirm. Noyes gab sich zu erkennen. Der Schirm wurde klar, und Elena zeigte sich. Sie war nackt, aber der Schirm zeigte sie nur bis oberhalb ihrer Brüste. Der winzige Bildschirm in der Telefonzelle ließ ohnehin kaum Details erkennen.
„Ich komme gerade von einem Besuch bei Roditis in Indiana zurück“, sagte er.
„Hast du ihm davon erzählt …“
„Von St, John? Ja.“
„Er ist sicher in die Luft gegangen!“
„Nein, eigentlich hat er das Ganze recht cool aufgenommen“, sagte Noyes. „Er schien sogar eine solche Wendung erwartet zu haben und hat sich dementsprechend vorbereitet. Hör mal, Elena, wie schnell können wir beide uns treffen?“
„Warum nicht gleich?“
„Hast du heute abend noch nichts vor?“
„Eigentlich nicht. Möchtest du denn mit mir noch mal nach Jubilisle?“
„Nein“, sagte er. „Ich möchte nur mal bei dir reinschauen. Ich muß nämlich … also ich wollte dir ein paar Fragen stellen.“
„Fragen, Fragen, immer nur Fragen! Also gut. Komm in mein Apartment. Wann darf ich dich erwarten?“
„Sagen wir, in einer Stunde?“
„Das geht.“ Mit flinken Fingern tippte sie ihm den Kurzkode auf den Bildschirm, den der Gleiter nehmen mußte, um zu ihr zu finden. Einen kurzen Augenblick später rutschte ein Kärtchen aus einem Schlitz in der Telefonzelle. Darauf stand der Kurs gedruckt Noyes nahm es und warf Elena eine Kußhand zu. Dann packte er seinen Koffer, rannte die Rampe zum Ausgang hinunter und suchte einen Raum auf, in welchem er sich frischmachen konnte. Dort stellte er sich unter eine Dusche. In der Zwischenzeit wurden seine Kleider ausgelüftet und wieder hergerichtet. Befreit vom Schweiß seiner Stippvisite in Indiana lief Charles zum Stand der Gleitertaxis. Auf dem Weg dorthin machte er noch einen kurzen Abstecher in eine Snack-Bar. Dann stieg er in einen Gleiter
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