Nochmal tanzen - Roman
Abendessen kennengelernt. Er wird morgen von ihr erzählen.
«Ist Ihnen nicht gut?» Sie hebt den Kopf. Lehrer Minder beugt sich zu ihr. «Was ist mit Ihnen?» Sie schaut ihm in die Augen, mehr Bewegung geht nicht. «Wollen wir uns ins Lehrerzimmer setzen?» Sie möchte den Kopf schütteln. Minder fragt mit den Augen nach. «Gehen Sie nach Hause, ich informiere die Kollegen.» Er legt seine Hand auf ihren Arm und wiederholt den Satz.
Zu Hause wirft sie sich aufs Bett. Ihr Brustkorb schmerzt, der Rest des Körpers ist taub. Aufhören. Es muss aufhören. Es hört nicht auf. Sie bekommt fast keine Luft. Sie steht auf und trinkt im Bad einen Schluck Wasser. Zurück im Zimmer öffnet sie das Fenster. Sie setzt sich aufs Fensterbrett, schwingt die Beine über die Fassade. Endlich frei sein. Unter ihr spaziert eine alte Frau in roter Bluse. «Geh schon.» Die Frau bleibt stehen und schaut zu ihr hoch. Fleur kennt sie vom Sehen. Sie muss in der Gegend wohnen. «Los, geh weiter.» Die Augen der Frau weichen nicht von ihr. Fleur steigt vom Fensterbrett, schließt das Fenster.
Den Rest des Nachmittags schläft sie. Mutter sagt sie abends, sie sei krank, Magenkrämpfe. Mutter brüht Tee und Suppe, lässt sie in Ruhe.
Tags darauf erwacht sie gegen zehn Uhr, der Hals wund, beim Einatmen schmerzt die Brust. Dem Vater schreibt sie: «Bin krank, kann heute nicht, sorry.» Und jetzt? Sie schleppt sich in die Küche, bestreicht zwei Scheiben Brot mit Butter und Ovomaltine, wärmt Milch. Auf dem Esstisch liegt die Zeitung. Überall breitet sich Mutter aus. Lässt Fleur etwas liegen, motzt sie. Kauend überfliegt Fleur die Seite mit den vermischten Meldungen. Ein Elefantenfuß mit rot lackierten Nägeln. «Bangkok. Pediküre bei einem heiligen Tier», steht in der Bildlegende. Mehr mag sie nicht lesen. Nicht lesen, nicht denken.
Sie könnte zum Arzt gehen und sich krankschreiben lassen. Sie sieht den Doktor vor sich, seinen grauen Bürstenschnitt, die aufmerksamen Augen. Er würde sie fragen, was los sei. Zu Hause bleiben, fernsehen, lesen. Das Kind und die Frau würden sich nicht vertreiben lassen. Auf dem Stundenplan stehen am Nachmittag Geschichte und eine Doppelstunde Englisch. Das wird sie ablenken.
Fleur setzt sich und legt den Kopf ans Zugfenster. Vater und das Kind. Ob Mutter davon weiß?
«Sie haben mir gestern einen Schrecken eingejagt.»
Sie schaut auf. Die alte Frau mit der roten Bluse. Ausgerechnet. Bevor Fleur reagieren kann, setzt sich die Alte zu ihr ins Abteil und spricht weiter. «Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Aber ich bin aufgeregt.»
Fleur deutet ein Lächeln an. Um nicht reden zu müssen, nimmt sie die Kamera aus ihrer Tasche und sichtet die letzten Bilder. Zwei Mal ihre Fußspitze über Kopfsteinpflaster. Auf dem nächsten Foto mehrere Beine, leicht verwackelt. Es gefällt ihr. Dann wedelt die Schwanzspitze eines Rauhaardackels ins Bild. Auch das wird sie behalten. Ein metallisches Klimpern und ein lautes «Oh» lenken sie ab. Die alte Frau liest zu Fleurs Füßen ein goldenes Armband auf. «Pardon.» Fleur sieht zu, wie sie das Armband zwischen Oberschenkel und rechtem Handgelenk einklemmt und mit der linken Hand versucht, es zu schließen. Das Armband rutscht immer wieder ab. «Könnten Sie mir bitte helfen?»
Fleur legt die Kamera ab und schiebt die schmalen Enden des Schmuckstückes ineinander.
«Von meiner Mutter, ich trage es nur zu speziellen Anlässen.» Die Frau senkt die Stimme. «Ich habe ein Rendezvous mit einem Unbekannten.»
Ein Blinddate? Fleur traut sich nicht, nachzufragen, und schaut aus dem Fenster. Ein Rendezvous in diesem Alter. Sonst reden die Alten im Zug über Arztbesuche. Auf dem Dunkel einer Böschung zeichnet sich der Umriss der Frau ab. Kleiner Kopf, langer Hals, gerader Rücken. An den Fingern der rechten Hand hat Fleur beim Schließen des Armbandes dunkle Flecken gesehen. Vielleicht schreibt sie mit Tinte. Auf Dating-Seiten im Internet kann sie sich die alte Dame nicht vorstellen. Eher hat sie in der Zeitung inseriert.
Fleur liest die Partnerschaftsinserate in Mutters Zeitung jedes Wochenende. Nur wenige sind so geschrieben, dass sie etwas über die Person aussagen. «Bei einem Glas Wein gute Gespräche führen» und «gut situiert» kommt häufig vor. «Du liebst die Natur» auch. Die meisten Männer betonen ihren beruflichen Erfolg, die Frauen ihre Sehnsucht nach gemeinsamen Unternehmungen. «Schönes Wohnen, Kultur, Reisen, Golf, Genießen». Sie erinnert
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