Nochmal tanzen - Roman
aus.»
«Super, bis dann. Machs gut.»
Sie legt auf. «Hast du angerufen?»
Mutter blickt zu Boden.
«Hör auf, dich in mein Leben einzumischen.»
Die Mutter sieht auf, holt Luft. Ohne etwas zu sagen, verlässt sie das Zimmer. Fleur packt das Mathematikbuch in die Mappe. Beim letzten Treffen dauerte es lange, bis Vater und sie ein Gesprächsthema fanden. Was sie im Englisch lese, wollte Vater wissen. Sie hatte keine Lust, über Who’s Afraid of Virginia Woolf? zu sprechen. Die Verachtung zwischen den Eheleuten, die Lügen und Alkoholexzesse beelendeten sie. Dann fragte Vater nach dem Fotografieren. Sie erwähnte Versuche mit Gegenlicht. Er ging nicht darauf ein und erzählte von Woody Allens neuestem Film, den er großartig fand. Sie mochte Woody Allen nicht. Wo andere lachten, empfand sie Mitleid. Erst als Vater Jacques Tati erwähnte, fanden sie sich. Früher hatten sie am Fernseher zusammen Mon oncle angeschaut. Der schusslige Hulot brachte alle drei zum Lachen. Playtime sei moderner, sagte Vater. Er spiele in einem Hochhaus. Vater versprach, den Film mit ihr ein zweites Mal anzusehen. Sie freute sich darauf.
5
Der Mathematiklehrer legt Fleur die korrigierte Prüfung aufs Pult. Sie schaut kurz darauf. Nicht schon wieder. Sogar in Aufgaben, die sie zu lösen glaubte, ist alles rot. Sie rechnet aus, was sie das nächste Mal für eine Note machen muss, um nicht sitzenzubleiben. «Scheiße.» Der Lehrer verkündet, der Durchschnitt sei hoch. Wer gelernt habe, sei mit einer guten Note belohnt worden. Fleur protestiert: «Ich habe sehr viel gelernt.» Der Lehrer sieht sie freundlich an, beschwichtigt: «Ich weiß. Sie sind die Ausnahme, Fleur. Bei Ihnen hilft nicht einmal büffeln.» Jemand kichert, Fleur ist es egal. Wenigstens weiß er, dass sie nicht faul ist.
Ihr früherer Mathelehrer hatte ihr versichert, dass er sie nicht sitzenlasse, solange sie in den anderen Fächern gut sei. Der jetzige ist der Meinung, wer in Mathematik nicht genüge, sei nicht reif für die Uni. Warum sollte sie, die gut in Sprachen ist, in Geschichte und Kunst, nicht studieren dürfen? Warum sind ihre Fähigkeiten weniger wert? Der Arbeitgeberverbandspräsident sagte in einem Vortrag in der Aula, die Wirtschaft brauche keine Philosophen, Schauspielerinnen und Historiker, sondern Ingenieure, Mathematikerinnen und Juristen. «Schauen Sie der Realität ins Auge und lassen Sie Ihre Traumberufe Träume sein», rief er vom Podest. «Je früher Sie das tun, desto besser wird es Ihnen im Berufsleben gehen.» Die Realität. Sie kennt sie nicht. Die Realität hat nichts mit Philemon und Baucis zu tun.
Mit dem Pausengong verlässt sie das Schulzimmer. Im Korridor holt Michael sie ein. «Schlimm?»
Sie nickt. «Bei dir?»
Er wiegelt mit der Hand ab. «Schreib das nächste Mal ab.»
«Das hilft nur, wenn ich eine Ahnung vom Lösungsweg habe.» Sie schließt ihre Mappe im Schrank ein. «Gehen wir zusammen essen?»
Michael antwortet mit «Sorry, heute nicht, ich habe abgemacht» und errötet.
Fleur mag sonst niemanden fragen. Mit der Kamera in der Hand schlendert sie zum See. An der Seepromenade wimmelt es von Spaziergängern. Sie schaut durch sie hindurch. Wie weiter. Immer nur Aufgaben, Prüfungen, Vater anrufen, Zimmer aufräumen. Atmen, essen, lernen. Abhängig vom Geld der Eltern, der Gunst der Lehrer. Atmen, essen, lernen. Michael ist verliebt, Sarah weg, Pascal unerreichbar. Das Leben ist kein freundlicher Ort. Sie hält die Kamera eine Armlänge von sich weg und drückt aufs Geratwohl ab. Sie wird Kopfsteinpflaster belichten, ihre Füße. Bedeutungsloses Fortschreiten.
Plötzlich sieht sie ihren Vater. Sie muss sich täuschen. Der Mann hat ein kleines Kind auf den Schultern und galoppiert im Kreis. Fleur bleibt stehen und beobachtet, wie der Mann das Kind, ein Mädchen, auf den Boden stellt und eine Frau mit roter Kurzhaarfrisur küsst. Das Mädchen jauchzt, die Frau lächelt, der Mann drückt sie an sich. Fleur friert. Wie er den Kopf hält, ist ihr vertraut. Vater. Er hat eine Freundin mit Kind, das er herzt. Er hat nichts davon erzählt. Fleur dreht sich um und läuft so schnell sie kann. Eine Freundin. Ein Kind. Es ist sein Recht. Der Kuss. Das Lachen.
Außer Atem kommt sie in der Schule an und fährt mit dem Lift in den vierten Stock. Vor der Aula setzt sie sich auf eine Fensterbank. Der Kuss, das Kind, die Mathematikprüfung. Vater. Sie legt die Stirn auf die Knie. Vielleicht hat er die Frau erst nach dem letzten gemeinsamen
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