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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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sich zu läutern. Der Überlieferung zufolge habe auf der Route jede Handlung, jedes Wort und jeder Gedanke siebenfaches Gewicht. Wer um Erkenntnis bemüht sei, werde siebenfach belohnt, wer liederlich sei, müsse siebenfach büßen. Es sei verrückt. Auch wenn man die Mythen rund um den Berg und seinen Gott nicht glaube, könne man die Kraft, die von ihm ausgehe, spüren. Das Rückgrat, die Demut der Pilger und das Wissen um die Hoffnungen von Millionen von Menschen, die auf dem Berg lasteten, ließen niemanden unberührt. Er habe sich dabei ertappt, seine Gedanken kontrollieren zu wollen. «Nicht ans Picknick denken», habe er gedacht, sobald er ans Picknick dachte. Alice lachte. «Hoffen wir, dass Sie nicht dafür büßen müssen.»
    Fleur hatte sie am Hoffest nicht gesehen. Es waren nur drei Teenager anwesend, die abseits auf einer Treppe saßen und nicht lange blieben. Alice erinnert sich an ihr eigenes Herumsitzen. Ihre Kolleginnen und sie trafen sich am Bahnhof. Dort schauten sie, warteten. Waren Jungs in der Nähe, redeten sie laut und lachten viel.
    Sie wüsste gerne, wie sie damals wirkte. Verschlossen, gelangweilt, aufmüpfig? Wie sie sich fühlte, weiß sie. Verloren. Unsicher. Hätte es ihr geholfen, zu wissen, dass die Kolleginnen auch nicht so souverän waren, wie sie sich gaben? Ich weiß nicht wohin mit mir. Ich kann das nicht, erwachsen werden. Ich will anders sein. Sagen Teenager heute so etwas zur Freundin, zum Freund? Und dann ist plötzlich alles anders. Manche ihrer ehemaligen Schützlinge grüßen Alice nicht einmal, wenn sie ihnen auf der Straße begegnet.
    Sie blickt ins Schaufenster einer Boutique, um den Sitz ihrer Kleidung zu prüfen. Früher stand hier ein Käseladen. Sie richtet den Reißverschluss ihres Rockes aus. Nur noch wenige Schritte bis zum Tearoom Hofgarten. Vor ihrem allerersten Rendezvous hatte ihr Mutter «rarmachen» eingeimpft. Alice begriff erst, was sie damit meinte, als Hannes, ein blond gelockter Tänzer, sie auf dem Heimweg küsste. Ihr erster richtiger Kuss. Das Begehren ihres Körpers verstörte sie. Rar machte sie sich nicht. Sie ging nach Hause, um sich Zeit zu geben. Und bereute es hinterher.
    Sie öffnet die Glastür des Tearooms und bleibt einen Moment stehen, um die Anwesenden zu mustern. In der Mitte streichelt ein Mann im Anzug seinen Computer. Weiter hinten schaut ein etwa Fünfzigjähriger in weißem T-Shirt in ihre Richtung, wendet sich aber gleich wieder ab. Der Glatzkopf über der Zeitung ist zu jung. In der Ecke beim Fenster erhebt sich ein gebeugter, hagerer Mann mit schütterem Haar. Sie versucht zu erkennen, was auf dem Tisch vor ihm liegt, aber ihre Augen sind zu schwach. Nach ein paar Schritten in seine Richtung erkennt sie rosa Stoffpuppen auf dem Buchdeckel. Der Mann streckt ihr seine Hand entgegen.
    «Alice, nehme ich an.»
    «Freut mich, dich kennenzulernen, Alexander.»
    Eine bestimmte Hand, ein ansprechendes Gesicht. Sie beobachtet ihn beim Hinsetzen. Er lässt sich nicht plumpsen. Sie registriert es erleichtert. Mit schlaffen Menschen tut sie sich schwer. In der Tanzschule musste sie sich zusammenreißen, dass sie ihnen nicht «Gib dir einen Ruck!», oder «Komm in die Gänge!» befahl. Sie nimmt Alexander gegenüber Platz und achtet darauf, dass er nicht sieht, wie sie sich beim Setzen mit der Hand entlastet.
    «Kennst du das Buch?», fragt er.
    «Nein. Ich habe die Zeichnungen, die die Künstlerin in schlaflosen Nächten macht, in einer Zeitschrift gesehen. Kreise, Spiralen, Wellen. Ganz einfach. Ich habe es ausprobiert.»
    Alice hält inne. Sie will nicht so viel sprechen. Alexander blättert im Buch, schiebt es aufgeschlagen vor sie hin.
    «Was fällt dir dazu ein?»
    Sie versteht die Frage nicht.
    Alexander erklärt: «Ich war zu früh hier und habe mir die Zeit mit einem Spiel vertrieben: Das Buch blind aufschlagen und die Seite als Orakel verwenden.»
    Alice sieht eine Spirale, die sich diagonal über die ganze Seite zieht. «Was soll mir dazu einfallen?»
    «Nichts. War ein Versuch, ein Gespräch zu beginnen. Ich habe mich lange nicht mehr mit einer Dame getroffen.»
    «Ach so.» Alice lächelt.
    «Magst du mir verraten, auf welche Fragen du gerne antworten würdest?»
    Sie studiert die Getränkekarte. Sie mag keine Fragen beantworten. Schon gar nicht die eigenen. Sie sieht auf, Alexander direkt in die Augen, fragt: «Warum trägst du das Buch von Louise Bourgeois mit dir herum?»
    «Weil mich ihre Sicht auf die Welt fasziniert. Und

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