Nochmal tanzen - Roman
richtige Frau? Gibt es keinen Mann, wie ich ihn mir wünsche? Erst als sie den Tanzkurs besuchte und Martin kennenlernte, ging es ihr besser. Dass er schwul war, war ihr egal. Er behandelte sie wie eine Frau, also war sie eine.
Sie biegt in die Gasse zum Münster ein. Von der Plattform des Turmes winken Leute. Plötzlich löst sich etwas Weißes aus ihrer Mitte, schwebt hinunter. Auf der Höhe des Münsterdaches bläht es sich auf und fliegt seitlich aus ihrem Blickfeld. Was die junge Nachbarin wohl bedrückt? Auf ihrer Tasche klebte das Emblem der ehemaligen Töchterschule. Einige von Alice’ Schülerinnen und Schüler besuchten dieses Gymnasium. Sie kamen mit siebzehn, um am Abschlussball der Klassen über ihnen tanzen zu können. Ihre Probleme ließen sich nicht mit Gesprächen lösen. Einziger Maßstab waren die Noten. Manchmal vermittelte Alice Nachhilfeunterricht bei ehemaligen Schülern oder machte auf Hilfsangebote der Stadt aufmerksam. Bei Anzeichen von Essstörungen, Drogen und Gewalt überlegte sie bisweilen, ob sie Kontakt aufnehmen sollte mit den Eltern. Sie tat es nie. Sie wollte das Vertrauen, das ihr die Jungen entgegenbrachten, nicht verspielen, und sie hatte Hemmungen, sich in andere Leben einzumischen.
Alice fällt die Jugendliche ein, die nur aus Knochen, roter Nase und kalten Händen bestand. Sie sprach mit der Stimme eines Kindes und hatte Flaum auf dem Kopf. Vor der Lektion nahm sie einen Bissen Apfel zu sich, nach der Lektion einen zweiten. In der Pause trank sie eine halbe Flasche Cola Light und sah den anderen beim Naschen zu. Alice hoffte, dass das Mädchen beim Tanzen aufblühte. Doch sie ließ sich keinen Moment gehen. Sie tanzte nur mit den beiden Jungen, die ihr passten, was gegen die Regeln verstieß. Sie bestand in zuckersüßem Tonfall auf offenem Fenster, obwohl alle anderen froren, und übte weiter, wenn Alice und Martin etwas erklärten. In der dritten Lektion platzte Martin der Kragen. «Fertig Extrawurst», sagte er und schloss das Fenster. Da packte sie ihre Cola-Flasche und den angebissenen Apfel und ging. Alice machte Martin danach Vorwürfe. Er konterte, er lasse sich nicht erpressen. Alice weicht einer Frau mit Doppelkinderwagen aus, der um die Ecke geschossen kommt. Sie hätte das Gespräch mit einem Arzt suchen sollen, damals. Vielleicht hätte sie der Jugendlichen mit der richtigen Reaktion helfen können.
Die Mutter von Fleur wäre in der Nähe. Seit Alice in der Siedlung wohnt, sieht sie die Frau Morgen für Morgen das Bettzeug aus dem Fenster hängen. Am Hoffest saß sie am anderen Ende ihres Tisches. Sie schien die meisten Nachbarinnen und Nachbarn zu kennen, jedenfalls wechselte sie mit vielen ein paar Worte. Alice hatte den Eindruck, dass sie Gesellschaft genoss. Als sich jemand nach ihrem Mann erkundigte, sah Alice, dass ihr das Thema unangenehm war. Sie schnappte «mit der Tochter allein» auf. Alice hätte sich gerne mit ihr unterhalten, doch sie saß zu weit weg, um die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können. Sie wurde von einem Mann belagert, der besessen schien von Königin Elisabeth. Alice beteiligte sich nicht am Gespräch, sah ihm nicht einmal in die Augen, aber der Mann redete ohne Punkt und Komma auf sie ein.
Schließlich rettete sie sich ans Kuchenbuffet. Dort kam sie mit einem Ethnologen ins Gespräch, der gerade von einer Forschungsreise im Himalaja zurückgekommen war. Er erzählte, es gebe dort einen Berg, dem seit Jahrhunderten heilbringende Kräfte nachgesagt würden. Auf dem Schneemantel zeichne sich sein dunkles Rückgrat ab. Wann immer ein Bergsteiger plante, ihn zu bezwingen, hätten weltweite Proteste dies verhindert. Der Berg sei Sitz des Zerstörergottes, der auch Schöpfergott sei. Alice fragte nach. «Ja, beides. Und was Sie vielleicht interessiert: Er ist auch der Gott des Tanzes.» Der Ethnologe griff nach einem Stück Zitronenkuchen. Ein tanzender Gott. Ein ausgelassener Gott. Alice versuchte sich vorzustellen, was er tanzte. Sie sah nur seinen weißen Bart durch die Luft fliegen.
Der Ethnologe fuhr nach ein paar Bissen mit seinem Bericht fort. Die Wanderung um den Berg habe ihn an den Rand seiner Kräfte gebracht. Die Höhe und die Temperaturunterschiede seien gewaltig. «Stellen Sie sich vor, es gibt Pilger, die den Weg um den Berg mit Niederwerfungen hinter sich bringen», sagte er. «Sie legen sich der Länge nach zu Boden, stehen auf, legen sich wieder hin. Körperlänge um Körperlänge.» Andere gingen auf den Knien, um
Weitere Kostenlose Bücher