Nochmal tanzen - Roman
sich an ein Inserat, in dem ein Siebzigjähriger eine «liebe Frau» suchte, die «gut kocht, gerne vegetarisch» und «kleine Büroarbeiten» erledigt. Der wäre nichts für die Frau ihr gegenüber. Die sieht nicht aus wie eine, die ihrem Mann zu Diensten sein möchte. In einem anderen Inserat wünschte sich ein «Unternehmer mit Niveau» eine «attraktive und vermögende Frau oder Millionärin». Auf den ist sicher keine reingefallen. Fleur würde schreiben: «Ich suche meinen Seelenverwandten. Mir ist wichtiger, was du hörst, siehst, liest und denkst, als was du erreicht hast. Ich möchte mit dir wachsen.»
Im Film wissen die Leute augenblicklich, wer der Richtige ist. Woran erkennt man ihn im Leben? Welches ist das richtige Gefühl? Sie lässt sich nichts anmerken, wenn sie verliebt ist. Einen Jungen angesprochen hat sie noch nie. Sie weiß auch nicht, wie man jemanden verliebt macht. Manu ist gut darin. Immer ist sie umgeben von Jungen, die mit ihr Sprüche klopfen, den Arm um die Schultern legen, mit ihr ausgehen. Auch Sarah hatte Verehrer. Mit einem aus der Parallelklasse, der Fleur auch gefällt, hatte sie sich eines Winters zum Schlitteln verabredet. Nach dem Treffen ging Sarah ihm aus dem Weg. Warum, sagte sie nicht.
Die alte Frau nestelt in ihrer Handtasche und nimmt einen Spiegel heraus. Sie mustert sich, zupft die Haare zurecht. Beim Zuklappen des Spiegels fängt sie Fleurs Blick auf.
«Ich bin nervös.»
Fleur lächelt. Sie versucht sich vorzustellen, wie ein alter Mann sie küsst. Sie hat noch nie zwei Alte gesehen, die sich auf den Mund küssen. Vater und das Kind verdecken das Gesicht der Alten. Warum hat er nichts gesagt.
«Darf ich Sie etwas fragen?»
Fleur wehrt ab: «Was?»
«Ich habe einen Freund in Thailand, dem ich ein Foto von mir e-mailen möchte. Ich habe nur Papierbilder. Würden Sie mich mit Ihrer Kamera fotografieren und mir das Foto bei Gelegenheit auf den Computer laden? Ich wohne bei Ihnen um die Ecke.»
Fleur nickt. Sie platziert die Frau auf ihrer Bankseite, damit das Licht seitlich aufs Gesicht fällt. Die Frau lächelt, Fleur drückt ab, verändert ihre Position, drückt wieder ab. Diesmal ist das Gesicht ernster, aber nicht weniger präsent. Vielleicht war sie Schauspielerin. «Danke», sagt die Alte, aber Fleur knipst weiter. Bevor sie in den Hauptbahnhof einfahren, notiert sie sich Name und Hausnummer der Frau.
Alice schaut auf die Uhr. Sie kann sich Zeit lassen auf dem Weg zum Tearoom und durch die Altstadt gehen. Ob die junge Nachbarin jemanden zum Reden hat? Sie hätte ihr gerne gesagt, dass es immer einen Ausweg gibt. Wie früher, wenn sich ihr Schülerinnen und Schüler anvertrauten. Sie sah ihren Kummer in verbissenen Kiefern, verkrampften Schultern, eingefallener Brust. Probleme in der Schule, Krach mit den Eltern, Angst vor der Zukunft, Liebeskummer. Manche begannen zu erzählen, wenn sie fragte: «Gehts dir nicht gut?» Andere öffneten sich mit einem sentimentalen Musikstück. Sie machte sich dann kurzfristig zur Tanzpartnerin. Arm in Arm, Auge in Auge löste sich ihr Stau.
Helfen konnte sie nicht. Sie hörte vor allem zu und erzählte von sich. Sie wollte den Jungen vermitteln, dass ihr Eingeschlossensein im Schmerz, in der Ohnmacht nicht ewig währt. Dass sich das Leben von Stunde zu Stunde verändert. Dass andere Menschen ihre Erfahrung teilen. Sie geht am Blumenladen mit dem Papagei vorbei. Ob er noch an seinem Platz sitzt, jetzt, wo die alte Besitzerin tot ist? Einige Schritte weiter strömt durch ein Gitter im Boden der Duft von frischem Brot. Sie wirft einen Blick auf die Auslage der Bäckerei. Es hat noch Butterbretzel. Soll sie? Sie geht im Kopf durch, was sie gegessen hat. Genug Kalorien. Sie setzt ihren Weg fort.
In Fleurs Alter besuchte sie die Handelsschule. Die Kolleginnen unterhielten sich in den Pausen immer über Männer. Sie träumten vom Heiraten und Kinderbekommen. Alice sehnte sich nach einem Vertrauten, nicht nach der Ehe. Ihr schwebte ein abwechslungsreiches Leben an der Seite eines Mannes vor, der neugierig war und haushalten konnte. Die Klassenkameradinnen spöttelten, sie sei prüde, weil sie ihre Schwärmereien nicht teilte, und ihre Mutter sagte: «Du musst unter die Leute, Mädchen, sonst findest du keinen. Geh tanzen.» Ihre Mutter war überzeugt zu wissen, wie das Leben funktionierte. Alice glaubte ihr lange. Zu lange. Sie erinnert sich, wie sie nachts wach lag und sich fragte, was nicht stimmte mit ihr. Bin ich keine
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