Nochmal tanzen - Roman
vertraue dir. Zu banal, um jemandem anzuvertrauen. Sie stellt das Radio an. Violinen lassen sie aufhorchen. Romeo und Julia von Prokofjew. Alice schaute sich das Ballett mehrmals an, als es in der Stadt aufgeführt wurde. Julia warf sich rückwärts in Romeos Arme, er wirbelte sie durch die Luft, fing sie wieder auf. Alice hebt den Teig aus der Schüssel und knetet ihn.
Blindes Vertrauen kennt sie nicht. Nicht einmal wenn sie bis in die Füße verliebt war, verlor sie sich ganz aus den Augen. Sie mochte die Liebe zu einem Mann nicht über das Tanzen, über ihre Freundschaft mit Martin und über ihre finanzielle Unabhängigkeit stellen. Nur für den Schauspieler wäre sie bereit gewesen, alles stehen und liegen zu lassen. Wenn er gewollt hätte. Sie stellt das Radio lauter, knetet kräftiger. «Liebe ist ein Risiko», sagte Martin, als er sich auf Pong einließ. «Mich brachte sie in Sicherheit», sagte sie.
Bei Fritz fühlte sie sich auf Anhieb zu Hause. Mit seinen sechs Jahren Altersvorsprung, der Stelle als Lehrer und der Position im Turnverein war er wie ein Baum mit großem Wurzelstock. Ihr Wirbeln brachte ihn nicht ins Wanken. Dass sie nicht jeden Abend für ihn kochte, störte Fritz nicht.Solange sie sich ums Putzen, Waschen und Bügeln kümmerte, durfte sie so oft trainieren, wie sie wollte. In seinem Freundeskreis war sie die Exotin. Die Frau, die ohne ihren Mann tanzen ging. Die mit dem schwulen Freund. Mit Make-up und Glitzerkostümen. Fritz’ Freunde unterhielten sich gerne mit ihr, mit den Frauen war es schwieriger.
Alice wirft den Teig auf die Anrichte, um die Luftbläschen darin zum Platzen zu bringen. «Wie kannst du so einen Mann verlassen», sagte ihre Mutter, als sie sich scheiden ließ. Alle waren gegen sie: ihre Eltern, ein Teil ihrer Freunde und die Gemeinde. Sie hält inne, hört der Musik zu, die aufwallt. Langweiliges Eheleben zu komponieren, wäre schwieriger als verzehrende Liebe. Die Melodie wäre sehnsüchtig, gepflegt arrangiert. La vie en rose ohne Piafs Stimme, wie es Pedro in Bars gespielt haben musste. Sie zwickt ein Stück Teig ab und steckt es in den Mund. Was, wenn sie das Risiko mit Pedro eingegangen wäre? Wären sie glücklich geworden? Oder hätte er sie neben Frau und Kindern gewollt wie andere, in die sie später verliebt war?
Die Bläser stimmen den Ball der Ritter an, ihre Lieblingsmelodie in Romeo und Julia. Sie summt mit den Posaunen mit. Unbeschwert tanzt auf diesem Ball niemand. Die Damen reichen den Herren von rechts die Hand, vier Schritte vor, links drehen, vier Schritte zurück, da brechen Romeo und seine Freunde durch die Reihen. Jetzt die Triller, der Ball gerät außer Kontrolle. Alice schneidet den Teig entzwei. Der Skandal von Romeo und Julia ist nicht, dass sich zwei aus verfeindeten Familien begehren, sondern dass sie weder vor dem Herzog, noch vor den Eltern, noch vor den Freunden Angst haben. Nicht einmal sich selbst fürchten sie. Das verstört mehr als die Liebe. Angst überkommt Romeo erst, als sich Julia vermeintlich umbringt. An dieser Stelle wollte Alice bei jeder Vorstellung «Sie ist nicht tot!» rufen. Sie bezweifelt, dass Julia bereit wäre zum Selbstmord aus Liebe. Romeo und Julia bringen sich aus Verzweiflung um, nicht aus Liebe. Aus Verzweiflung über den zur Illusion gewordenen Traum, in dem der Geliebte die Tür zu einer anderen Welt aufstößt.
Alice rollt die Teighälften zu Strängen aus und legt sie übers Kreuz auf den Küchentisch. Es ist die Tür zur eigenen Welt, die aufgeht, wenn man sich jemandem hingibt. Oder etwas. Ohne ihre Hingabe zum Tanz hätte der Tanzlehrer sie nicht gefördert. Ob er sich seiner Bedeutung für ihr Leben bewusst war? Sie kreuzt die Stränge rechts über links. Da waren noch andere, die sie voranbrachten. Martin, natürlich. Der Mann, der ihr und Martin das Tanzstudio vermietete, obwohl sie in Scheidung und Martin schwul war. Hildegard Knef und ihr Alles oder nichts. Alice bepinselt den Zopf mit Eigelb. Jetzt hätte sie eine Antwort auf Alexanders Frage nach ihren Fragen. Was hast du dir als junge Frau für ein Leben vorgestellt? Wie ist es möglich geworden?
Fleur schlagen Orchesterklänge und ein süßer Geruch entgegen, als sich die Wohnungstür öffnet.
«Danke, dass Sie hereinschauen.»
Die alte Dame trägt Trainerhose und Kapuzenjacke und wirkt zerbrechlicher als im Zug.
«Treten Sie ein.»
Fleur tritt in den Flur. Es ist der gleiche wie bei ihr zu Hause. Über einem Schuhgestell zu ihrer
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