Nochmal tanzen - Roman
Linken hängt ein Fächer aus schwarzer Spitze, an der Stirnseite des Korridors lehnt ein Spiegel. Alice bittet sie in die Küche, wo sie eine Pfanne mit Wasser füllt. Fleur stellt sich vor eine Pinwand mit Fotos. Auf einigen Bildern ist Alice Maag stark geschminkt, trägt ein Nummernschild über dem Kleid und lächelt einem großen, sehr schmalen Mann mit pomadiertem Haar zu. Wie schön sie war. Fleur betrachtet sie von der Seite und sucht nach der Frau auf den Fotos. Nur die lange, gerade Nackenlinie und die Augenpartie erkennt sie wieder. Alice Maag ist eine Andere geworden mit dem Alter.
Alice legt Zopfscheiben, zwei Tassen, Milch und Löffel auf ein Serviertablett. Ob Fleur keinen Unterricht habe, fragt sie.
«Ich schwänze Turnen.»
«So, so. Es hätte nicht geeilt mit den Fotos.» Sie stellt eine Zuckerdose und die Teekanne aufs Tablett. «Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zu duzen?»
Seltsam, eine alte Dame zu duzen.
«Ist gut.»
Fleur folgt Alice ins Wohnzimmer und setzt sich ihr gegenüber an den Tisch.
«Tee?»
«Gerne.»
Sie sieht zu, wie der Teestrahl ihre Tasse füllt. Um etwas zu tun, rührt sie um. An der Wand über dem Tisch hängt die gerahmte Titelseite einer Zeitschrift mit Alice und dem Mann von der Küche darauf.
«Waren Sie, äh, warst du Turniertänzerin?»
«Ja. Der Mann da war mein Tanzpartner. Ihm möchte ich die Porträts schicken. Er lebt in Thailand.»
«War es schwierig, Turniertänzerin zu werden?»
«Nicht so schwierig wie heute. Damals musste man nicht schon als Kind mit Tanzen anfangen, um im Wettbewerb eine Chance zu haben.»
Mit einer Kopfbewegung zur gerahmten Titelseite sagt Fleur: «Sie waren sicher gut.»
«Wir haben uns doch aufs ‹du› geeinigt?» Alice lächelt. «In der Schweiz gehörten wir zu den besten, international waren wir Mittelmaß. Möchtest du Zopf?»
Fleur greift nach einem Stück. «Danke. Hast du Geld verdient mit dem Tanzen?»
Alice lacht. «Das bisschen Preisgeld. Ich arbeitete lange Zeit im Büro. Erst nachdem ich mit Martin eine eigene Schule aufgemacht hatte, konnte ich vom Tanzen leben.»
Fleur bricht einen Bissen ab und steckt ihn in den Mund. «Schmeckt gut. Hast du den Zopf selbst gebacken?»
Alice nickt.
«Wolltest du immer Turniertänzerin werden?»
«Als Kind wollte ich klassische Tänzerin werden, aber meine Mutter fand, Ballettunterricht sei etwas für Reiche. Mit achtzehn Jahren besuchte ich in einen Standard-Tanzkurs. Weil er mir Freude bereitete und ich begabt war, fragte mich der Lehrer, ob ich mit Martin an Turnieren teilnehmen wollte.» Alice nippt an ihrem Tee. «Was willst du werden?»
«Ich weiß es nicht.»
Immer diese Frage. Gerne hätte sie sich jetzt an den Computer gesetzt, doch Alice schenkt Tee nach und verschwindet mit dem Krug in der Küche. Ob sie Familie hat? Fleur findet keinen Hinweis. Kein Hochzeits foto, keine Kinderzeichnungen. Ein Sofa und ein Sessel aus dunkelrotem Samt gruppieren sich um einen niedrigen Glastisch, auf dem eine Metallschachtel und lose Blätter liegen. Auf das oberste Blatt ist ein Vogel aus Tusche gezeichnet. Deshalb die schwarzen Finger.
Wie anders Alice Maag ist als ihre Großmütter. Vaters Mutter hat sie nicht mehr gesehen, seit er ausgezogen ist. Bei ihr durfte sie nichts anfassen, ohne zu fragen. Sogar auf ihrem Kopf war Ordnung. Jedes Haar hatte seinen festen Platz. Omi erzählte ihr, welcher Laden den besten Käse, welcher das frischeste Gemüse und welche Metzgerei das bestgelagerte Fleisch anbot. Auch was sie am Tag zuvor zu Mittag gegessen und zu Abend gekocht hatte, teilte sie ihr mit. Fleur versucht sich zu erinnern, worüber sie sonst sprachen. Dass sie Großvater über ein Inserat kennengelernt hatte, war tabu, obwohl sich Opi im Schwips gegenüber ihren Eltern einmal verplappert hatte. Auch dass Omis Schwester in einer psychiatrischen Klinik lebte, durfte niemand wissen. «Was denken die Leute», sagte sie, wenn Fleur ungekämmt aus dem Haus wollte oder im Tram laut war.
Mutters Mutter sang beim Kochen und lachte heiser über Großvaters Witze. Auf dem Weg zum Einkaufen erzählte Grosi von ihrer Kindheit. Sie hatte die dicksten Zöpfe weit und breit. Ihre Mutter verbot ihr, die geschenkten Kleider der Nachbarin anzuziehen. In der Schule bekam sie auf die Tatzen wegen der abgekauten Fingernägel, und sie musste Balladen von Goethe und Schiller auswendig lernen. Trotz guter Noten durfte sie keine höhere Schule besuchen. Sie wurde Kindermädchen bei einer
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