Nochmal tanzen - Roman
Konfirmationsspruch fällt ihr ein: unter engeln: man schwebt einander vor. Ihr schmeichelte, dass der Pfarrer sie in Verbindung brachte mit Engeln, aber der Spruch beunruhigte sie. Kaum meinte sie, etwas von seiner Bedeutung zu erfassen, entglitt er ihr. Alice hängt das Geschirrtuch auf und cremt sich die Hände ein. Das Offene der Zeile, das sie damals verstörte, erscheint ihr heute treffend. Wusste der Pfarrer, wie gut sie zu ihr passt? Hatte sie sich ihm gezeigt, ohne es zu ahnen?
Sie geht ins Wohnzimmer, räumt Zeichenstifte und Zeichnungen vom Salontisch. Das Blatt mit den übereinanderliegenden Umrissen von zwei Menschen auf der Straße löst sich aus ihren Fingern. Sie hebt es vom Boden. Was kann man wissen? Alexander wüsste etwas zu sagen dazu. Zumindest würde er mit ihr nach einer Antwort suchen.
Seit Martin weg ist, hat sie niemanden, mit dem sie fragen kann. Susanne hat keine Muße dafür, und Elsa mag Fragen nicht, die sie nicht beantworten kann. «Was soll ich dazu sagen», sagt sie, «es ist, wie es ist.» Mit Britt, der sie früher beim Maßnehmen und Anprobieren der Tanzkleider manches anvertraute, ist es schwierig, seit ihr Mann sie zwei Jahre vor der Pensionierung verließ. Alice kümmerte sich lange um sie. Sie dachte, Britts Bitterkeit würde vorübergehen, und versuchte, sie zum gemeinsamen Konzertbesuch zu motivieren und zum Einkaufen auf dem Markt. Doch Britt wollte früh zu Bett und den Wochenmarkt mied sie, weil dort Leute einkauften, die ihren Mann kannten. «Ich ertrage ihre Blicke nicht», sagte sie. «Ich sehe ihnen an, was sie denken.» Nur zum Turnen und zum Kaffeekränzchen mit Susanne und Elsa erschien sie regelmäßig. Beim letzten Treffen schimpfte Britt über die Tochter, die sich nur selten meldete, dann waren der Arzt, der ihr zu mehr Bewegung riet, und die Krankenkasse, die ihr keine Massagen bezahlte, an der Reihe und zuletzt die Paare, die sie nicht mehr einluden.
Ein Schrillen reißt Alice aus den Gedanken. Hastig nimmt sie den Hörer ab.
«Magst du morgen mit mir ins Kino gehen?», will Alexander wissen. «Es läuft ein Tanzfilm.»
7
Sie sieht Alexander schon von weitem vor dem Kino stehen. Er schaut über den kleinen Platz Richtung Straße. Alice nähert sich von der anderen Seite. Als Alexander sie bemerkt, lächelt er.
«Ich war ewig nicht mehr im Kino», sagt sie zur Begrüßung. Die Aufregung drückt ihr auf den Hals.
«Jetzt hat die Ewigkeit ein Ende.» Er küsst sie auf die Wange. «Schön, dich zu sehen.»
Er hat Logenplätze auf dem Balkon besorgt. Alice saß vor fünfzig Jahren zum ersten Mal in einer Loge. Ein älterer Junge aus der Nachbarschaft hatte sie eingeladen. Schon bei den ersten Einstellungen des Filmes stellte sich heraus, dass es sich um einen Erotikfilm handelte. Sie fühlte sich von den Bildern bedrängt und fürchtete, der Nachbar würde anfangen, sie zu betatschen. In der Pause mokierte sie sich über den Hauptdarsteller und die Geschichte. Es nützte. Der Junge ließ sie in Ruhe und brachte sie nach dem Kino sofort nach Hause. Sie wischt die Erinnerung weg. Diese alten Geschichten. Sie haben nichts mit Alexander zu tun. Seine Nähe ist ihr angenehm.
Im Saal wird es dunkel. Finger schnippen. Nach einer Weile sagt eine Männerstimme etwas auf Englisch, und ein Ballettsaal scheint auf. Darin studiert ein achtzigjähriger Choreograf mit jungen Tänzern Ravels Bolero ein. Früher tanzte er die Hauptrolle, nun soll eine junge Frau sie übernehmen. Mit dem Rücken zum Spiegel diktiert er ihr die Schritte. Sie bringt Arme und Beine in Position und wiederholt die Abläufe ein paar Mal glanzlos, um sie sich zu merken. Alice blickt aus den Augenwinkeln zu Alexander. Er hält die Hände gefaltet, die Augen sind auf die Leinwand gerichtet. Der Choreograf steht von seinem Stuhl auf, stellt sich vor die Tänzerin und gibt seinem Assistenten ein Zeichen. Das Schlagzeug setzt ein, die Oboe, die Tänzerin streicht sich mit den Händen über den Körper. Der Choreograf schnippt und beginnt mit der Tänzerin von einem Fuß auf den anderen zu wippen. Eine Klarinette spielt das Hauptmotiv, sie biegen sich vor und zurück. Der Choreograf atmet heftig, als ihn eine alte Einspielung überblendet. Er als junger Mann mit nacktem Oberkörper und unbeweglichem Blick. Seine Hose ist so tief geschnitten, dass die Adern der Lendenmuskulatur zu sehen sind. Er schmiegt sich an die Klänge wie an einen Geliebten. Schnitt und der alte Körper übernimmt wieder. Stimme
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