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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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wegen ihrer Liebenswürdigkeit.»
    «Ihrer Liebenswürdigkeit?» Alice lacht.
    «Ich kaufe nur Kunst von freundlichen Künstlern. Die Zeichnung hier», er zeigt auf eine Seite, auf der mit wenigen Strichen ein Haus skizziert ist, «hängt in meinem Büro.»
    Alice sieht einen sitzenden Menschen ohne Arme auf dem Dach. Seine Stirn stößt auf die Stirn einer Frau, die verhindert, dass der Mensch zu Boden fällt.
    «Sie muss ein Vermögen gekostet haben.»
    «Nein. Ich habe sie vor Jahrzehnten in Amerika gekauft, als Bourgeois unbekannt war.»
    Alice mustert Alexander, der noch immer ins Buch vertieft ist. Ob er meint, was er sagt? Lebt, was er behauptet? Sie erwartet von Künstlern keine Freundlichkeit. Nur Tänzerinnen müssen nett und höflich sein, das gehört zum Beruf. Sie brachte ihren Schülern als Erstes Anstand bei: Im Gespräch in die Augen des Gegenübers schauen, ausreden lassen, sich entschuldigen für ein Missgeschick. Rüdes Benehmen stößt sie ab. Wenn sich Junge unflätig aufführen in der Öffentlichkeit, wird sie wütend, für Altersgenossen schämt sie sich. Wie können sie rempeln beim Einsteigen ins Tram, in der Öffentlichkeit an den Zähnen lutschen, Körper und Kleider nicht pflegen. Sie müssten wissen, was sich gehört. Bevor sie Alexander fragen kann, warum er bei Künstlern Wert auf gute Umgangsformen lege, tritt die Kellnerin an den Tisch und erkundigt sich nach ihren Wünschen.
    «Wollen Sie alle wissen?», fragt Alexander.
    «Was war gestern los, warum bist du plötzlich verschwunden?» Michael sitzt Fleur breitbeinig gegenüber und folgt mit den Augen den Leuten, die am Zugfenster vorbeieilen. Fleur schaut sich um. Der Wagen ist voll, nur zu ihnen hat sich niemand gesetzt. Michaels Frage klingt besorgt. Soll sie ihm von der Frau und dem Kind erzählen? Würde er sie verstehen? Seine Eltern sind nicht geschieden. Er findet es «abnormal», dass sie kaum Kontakt hat zu ihrem Vater. Sie auch. Sie schämt sich, dass sie befangen ist, wenn sie ihn trifft, und nicht weiß, worüber sie reden soll mit ihm.
    Früher, als er noch zu Hause wohnte und Fleur die Schule nahe der Siedlung besuchte, sah sie ihn beim Frühstück und über Mittag. Fast immer kam er aus dem Büro im Parterre in die Dreizimmer Wohnung hinauf, um mit ihr und Mutter zu essen. Am Morgen schwatzten sie nicht viel, zu verschlafen war Fleur. Mittags durfte sie nach dem Essen mit ihm ins Büro hinunter, wo sie Aufgaben machte oder zeichnete. Sie liebte seine Modelle. Bürokomplexe aus Karton, Garagen aus Kunststoff, Gärten voller Holzwollebüsche.
    Im Advent bauten sie zusammen ein Lebkuchenhaus. Vater machte vor, wie sie den Lebkuchen fürs Giebeldach anschneiden musste. Sie bestrich die Schnittstellen mit Zuckerglasur, klebte Marzipangemüse in den Garten und zeichnete Gesichter auf die Erdnussbewohner. Am liebsten hätte sie das Häuschen für sich behalten, statt es Mutter zu schenken.
    Abends kam Vater hinauf, wenn sie schon im Bett war, so viel hatte er zu tun. Auch am Wochenende zog er sich für Stunden zum Arbeiten zurück. Beschwerte sich Mutter darüber, wurde er wütend und meinte, er habe das Architekturbüro mit ihrem Einverständnis aufgebaut, er könne es nicht halbherzig führen.
    Fleur erinnert sich an einen Wochenendausflug in einem Weingebiet, als sie in die zweite Klasse ging. Die Eltern brachten sie nach dem Abendessen im gemeinsamen Hotelzimmer zu Bett und gingen noch einmal nach unten. Mitten in der Nacht erwachte Fleur. Die Eltern flüsterten, dass es zischte. Sie hörte Streit. Stritten sie sich wegen ihr? Sie versuchte, etwas zu verstehen. Sie hörte immer nur «ich» und «du». Fleur versuchte, wieder einzuschlafen, klammerte sich an jeden Laut. Am liebsten hätte sie die Hände auf die Ohren gepresst, doch dann hätten die Eltern gemerkt, dass sie wach war.
    Anderntags gingen die Eltern mit einem befreundeten Paar und ihr in modrige Keller, tranken Wein und aßen Wurst, die Fleurs Zunge pelzig machte. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten vor Müdigkeit. Mutter lachte aufgekratzt über die Witze des Freundes, Vater redete über Reben. An einem Dorfbrunnen spritzte er Wasser in Fleurs Richtung. Fleur spritzte zurück. Vater wurde bis auf die Haut nass und schimpfte.
    Stritten sich Michaels Eltern auch? Bei ihr zu Hause verging in den letzten Jahren kaum ein Tag ohne Streit. «Du vernachlässigst deine Familie», sagte Mutter. «Du vernachlässigst deinen Partner», sagte Vater. «Du

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