Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
hören - und wie lange schien das her! -, hatte sie sich kein bisschen verändert. Ihr kurzes weißgraues Haar war so glatt und verblüffend wie eh und je. Auch das zerschlissene dunkle Kleid mit den hoch aufschließenden Knöpfen von damals trug sie noch.
    »Ich wusste nicht, dass du eine von …« Tigwid runzelte die Stirn. »Na ja, ich weiß ja nicht, wer ihr alle seid. Ich wusste nicht, dass es außer den Dichtern noch eine Mottenbruderschaft gibt.« Er sagte es leise und blickte erwartungsvoll in die Runde, um die Reaktionen zu sehen. Doch nur Collonta faltete die Hände auf dem Rücken und lächelte.
    »Na, die Dichter hast du ja wenigstens schon getroffen und das ist immerhin die Hälfte der Wahrheit. Wir sind die anderen . Wir sind die Motten, die den rechten Weg nicht verlassen haben. Wir sind auch bekannt als der Treue Bund der Kräfte. Obwohl dieser Name unsere Gaben banalisiert. Aber so ist es wohl mit allen Namen und allen Worten, nicht wahr? Sie vereinfachen immer das Wesentliche.«
    Tigwid betrachtete den alten Mann. Das sanfte Lächeln schien zu seinem Gesicht zu gehören wie das Muster im Stamm einer Eiche, das die Witterung über Jahre hinweg hineingearbeitet hat.

    »Wieso sollte ich euch glauben, dass ihr keine Dichter seid oder genauso schlimm?«, erwiderte Tigwid ruhig. »Ihr seid doch Motten. Morbus hat gesagt, dass das Buch der Antworten eigentlich eine Falle von euch war.«
    »Nein, nein, nein.« Collonta machte eine sorgenvolle Miene. »Die Dichter und wir vertreten ganz andere Einstellungen. Die Dichter glauben, nur die Sprache verbinde die Menschen und deshalb seien sie blind und könnten nur sich selbst lieben. Aber wir vom Treuen Bund wissen, dass man die Gefühle anderer Menschen nicht in Bücher sperren muss, um sie wirklich zu empfinden. Ich kann es dir zeigen … wenn du möchtest.«
    Tigwid zögerte. »Wie?«
    Collonta lächelte und wieder spreizten sich hundert zarte Fältchen um seine Augen wie Insektenflügel. »Nun, ganz einfach. Setze dich gerade auf, bitte. Und da du von allen hier mit Bonni am vertrautesten bist, wie ich vermute, bitte ich dich, Bonni, uns bei diesem kleinen Experiment zu assistieren.« Collonta wies auf einen Stuhl, der in einer Zimmerecke stand. Bonni holte ihn, sodass sie gegenüber vor Tigwids Matratze Platz nehmen konnte.
    »Zuallererst«, wies Collonta ihn an, »sieh Bonni tief in die Augen. Keine Scheu. Konzentriere dich auf nichts, lass einfach zu, dass sie dich ansieht und eure Blicke euch verbinden.«
    Stille trat ein, während Tigwid und Bonni sich ansahen. Nach einer knappen halben Minute spürte Tigwid an einem leichten Spannen um seinen Mund, dass er ihr Lächeln erwiderte. Das war nicht weiter ungewöhnlich.
    »Gut«, sagte Collonta leise, »und nun schließt die Augen.«
    Bonni schloss die Augen und Tigwid tat es ihr gleich. Er merkte, dass er nur noch flach atmete und seine Haut sich
kribbelig anfühlte, in Erwartung, dass etwas geschah. Dann spürte er eine Hand, die die Spitzen seiner Haare berührte. Es konnte nur Collonta sein. Die Hand strich langsam an einer Haarsträhne hinab … und hinab … bis zu den Spitzen, die plötzlich bis zu seinen Schultern reichten. Tigwid riss erschrocken die Augen auf und sah zur Seite, doch da stand überhaupt kein Collonta, und niemand berührte eine Haarsträhne, die bis auf seine Schulter fiel - seine Haare waren nicht länger als zuvor! Verblüfft schwenkte sein Blick zu Bonni, die soeben die Augen aufschlug. Collonta stand neben ihr und hielt ihr Haar in der Hand. Er lächelte vergnügt wie ein Schuljunge, dem es gelungen war, die Aufgabe an der Tafel richtig zu lösen. Tigwid schlug sich tapsig auf die kurzen Haare im Nacken.
    »Was - habe ich - ihre Haare - aber wie?«
    Collonta klatschte leise in die Hände. »Siehst du? Du hast soeben gefühlt, was Bonni gefühlt hat. Und nicht nur hast du meine Berührung gespürt, sondern auch ihr Haar. Man könnte sagen, für einen kurzen Augenblick«, schloss Collonta fröhlich, »hast du wie sie empfunden - du warst also für ein paar Sekunden Bonni.«
    Bonni erhob sich mit einem entschuldigenden Lächeln und strich sich das Kleid glatt. »Siehst du jetzt, Jorel? Es gibt Verbindungen zwischen allen Lebewesen, die weder irgendwelcher Worte noch Mottengaben bedürfen.«
    »Also war das keine Mottenkraft?«, fragte Tigwid, der immer erstaunter wurde.
    »Nicht alle Zauberei hat etwas mit unseren Gaben zu tun, nicht alle Zauberei!«, sagte Collonta. »Denn wenn

Weitere Kostenlose Bücher