Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
denke, das gewisse Durcheinander an Informationen ist genau das Richtige für dich, um damit anzufangen.«
Apolonia stockte, als Morbus ihr das Buch hinhielt. Schließlich zwang sie sich dazu, die Hände auszustrecken und es entgegenzunehmen. Es war schwer und kam ihr plötzlich viel größer vor als in Morbus’ Arm.
»Keine Angst«, sagte er leichthin und ging ihr zu den Schreibtischen voran. Er zog zwei Stühle ins Licht und setzte sich. »Ich passe auf, dass nichts außer Kontrolle gerät.«
Mit einem flauen Angstgefühl ließ Apolonia sich neben ihm nieder. Ihre Finger machten mehrere Versuche, den Deckel zu öffnen, doch immer wieder verließ sie der Mut.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, brachte sie schließlich hervor. Soweit sie sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie sich der gestellten Aufgabe eines Lehrers nicht gewachsen fühlte. Daran musste sie sich erst mal gewöhnen. »Damals in der Lagerhalle bin ich fast ohnmächtig geworden und … Sie wollen bestimmt nicht, dass ich mich in Ihrer Bibliothek übergebe.«
Gegen jede Erwartung begann Morbus bei dieser abschreckenden Drohung zu lachen. »Ich glaube nicht, dass es dir diesmal ergehen wird wie beim ersten Mal. Jetzt bist du vorbereitet. Und du bist dir deiner Mottengaben bewusst. Nun atme tief durch. Denk immer daran, dass all das, was du gleich lesen wirst, nur deinen Kopf erreicht - obwohl es wahr ist, darf es dich nicht besiegen, verstehst du? Versuche, an dir selbst festzuhalten. Und egal was passiert, vergiss niemals, wo du dich befindest - hier neben mir in der Bibliothek -, deinen eigenen Namen und dass du eine angehende Dichterin bist. Hältst du dich an diese drei Wahrheiten, kannst du dich gegen den Ansturm stellen, der dich in dem Buch erwartet.«
Apolonia atmete tief durch. Dann straffte sie den Rücken
und klappte den Deckel auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Morbus sich gespannt zurücklehnte. Mit klammen Fingern strich sie die Seite um. In jugendlich geschwungener Schrift stand geschrieben:
Von Jonathan Morbus.
Das Erste Buch.
Der Junge Adam
Apolonia blätterte um. Und da - da schmolz die Welt fort unter der neuen Welt, die aus den Worten auf sie niederstürzte. Wie ein Wasserfall aus leuchtenden Farben spülte der Junge Adam sie fort aus der Gegenwart, fort von sich selbst … Aber Apolonia zwang sich, in diesem Orkan der Gefühle an ihrer Vernunft festzuhalten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Könnte sie sich der unglaublichen, unbegreiflichen Schönheit doch ganz und gar ergeben! Könnte sie sich doch einfach vergessen für dieses fremde, vertraute Leben, das auf seine intensivsten Emotionen komprimiert war, wie tausend Sirenenstimmen auf ein einziges Seufzen … Dann fing sie sich. Sie atmete tief. Es ist nur eine Geschichte, sagte sie sich. Nur eine Geschichte … das ganze, ganze Leben war nichts als eine Geschichte. Konzentriert, zwischen schwelgender Liebe und glühendem Schmerz, las sie das Blutbuch weiter.
Apolonia verlor jegliches Zeitgefühl. Erst als Morbus sie kräftig an den Schultern schüttelte, konnte sie sich von den Worten losreißen und erwachte mit einem trockenen Mund und kalten Fingern wie aus einem stundenlangen Tagtraum. Es war zwei Uhr nachts.
»Das reicht für heute«, sagte Morbus, der die ganze Zeit neben ihr gesessen und aufgepasst hatte. Apolonia brachte nur ein Nicken zustande. Als sie sich eine Viertelstunde später
in ihr Bett sinken ließ, lag sie noch lange wach und starrte in die Dunkelheit, erfüllt von hundert wirr durcheinanderflatternden Gedanken. Erst nach einer Weile meldete sich eine Stimme zu Wort, die ihr verriet, dass diese Gedanken gar nicht ihre waren, sondern die des Jungen Adam, die noch durch ihr Bewusstsein schwammen wie Fische, die in fremdes Gewässer geworfen worden waren. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, nicht wissend, ob sie träumte oder wach war, und kam erst im grauen Licht des Tages wieder zu sich.
Etwas zerknittert erschien sie zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde. Doch in Apolonias Augen lag ein Funkeln, als die Glasvitrinen aus dem Boden stiegen und Morbus ihr Der Junge Adam überreichte.
»Jonathan?« Sie wandte sich ihm zu, als sie am Tisch saßen. »Ich habe bis jetzt noch nichts von den Gaben des Jungen Adam gelesen. Wann tauchen die auf?«
Er lächelte kühl. »Seine Gaben sind hier.« Er hob die dünnen Finger und klimperte damit in der Luft. »Auch wenn ich sehr freigiebig bin, alles teile ich nicht mit meinen
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