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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihrem Zimmer. Er wartete eine halbe Stunde auf der Straße, ihr Fenster im Auge. Als die Gaslaterne neben ihm zu knisterndem Leben erwachte, schlich er zum Dienstboteneingang, schob das Schloss per Mottenkraft auf und lief unbemerkt durch die Flure und eine Treppe hinauf. Nach nur einer Verwechslung fand er Apolonias Zimmer, doch es war verlassen. Wenn sie seit jenem Morgen, als sie zu Eck Jargo aufgebrochen waren, nicht mehr hier gewesen war, dann musste alles noch so sein, wie er es zuletzt gesehen hatte. Angestrengt versuchte Tigwid, sich zu erinnern. War das Bett gemacht gewesen? Nein. Aber die Decken konnte auch ein Dienstmädchen geordnet haben. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Papiere. Tigwid ging auch in den Ankleideraum, obwohl er letztes Mal nicht darin gewesen war. Der Geruch von Lavendel und frisch gewaschener Wäsche erinnerte ihn mit plötzlicher Heftigkeit an Apolonia. Er knipste die Lampe an und ließ den Blick über die dunklen Gewänder wandern. Automatisch streckte er die Hand nach einem Kleid aus, das sich von den restlichen abhob wie ein Farbklecks: Es war jenes schweinchenrosa Kleid, das Apolonia bei der Feier getragen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Tigwid befühlte die Ärmelspitzen und schnupperte verstohlen daran. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Entweder war Apolonia gezwungen worden, das Ding zu tragen, oder sie hatte an vorübergehender Farbenblindheit gelitten. Seufzend ließ Tigwid den Stoff los und machte das Licht aus. In dem Moment öffnete sich die Zimmertür. Ein Dienstmädchen kam herein und schichtete neues Feuerholz vor dem Kamin auf. Während das Mädchen ein leises Lied summte, schlich Tigwid aus dem Zimmer, lief Flure und Treppen hinab und verlangsamte seine Schritte erst, als er um die nächste Straßenecke gebogen war.
    Inzwischen hatte die Nacht Einzug gehalten und warf ihren
blauen Schleier über ihn. Mit der Dunkelheit holten ihn immer seine diebischen Verfolgungsängste ein, doch die finsteren Gassen verhießen auch Geborgenheit. Sein Atem leuchtete, als er durch den gleißenden Schein einer Straßenlaterne tauchte. Die leisen, raschen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster klangen wie Liebkosungen in der satten Stille. Er musste lange laufen, und die halbe Stunde wurde zu einer halben Ewigkeit, der Weg vom Haus der Spiegelgolds bis ins ärmere Schänkenviertel eine Wanderung durch die schattigen Tiefen der Zeit. Lichter, die aus Häusern blinzelten, verwandelten sich in die verglühenden Sterne einer Galaxie. Als Tigwid die Straßen seines Viertels erreichte, fühlte er sich, als wären Jahre vergangen - seit dem Haus der Spiegelgolds - seit gestern - seit seinem letzten Besuch in den Schänken vor mindestens drei Wochen. Er hatte seitdem Apolonia kennengelernt, den Untergang von Eck Jargo miterlebt, von seinem gestohlenen Glück erfahren, Bekanntschaft mit diversen Polizisten und Zellen gemacht, Mone Flamms Büro verraten, eine Kugel abbekommen und Collonta und den TBK getroffen. Ganz zu schweigen davon, dass ihm das wahrscheinlich größte Wunder der Welt, der Grüne Ring, vorgestellt worden war. Ungläubig schüttelte Tigwid den Kopf, während er an den beleuchteten Tavernen und schemenhaften Gestalten vorbeiging. Vielleicht kam ihm sein Leben wie zehn Leben vor, weil er durch den Erinnerungsraub vergessen hatte, dass die Ereignisse sich tatsächlich immer so überstürzten. Kein Wunder, dass manche Leute da verrückt wurden!
    Tigwid bog links in ein schmales Gässchen, das von einer einzigen Laterne erhellt wurde, die über dem Eingang einer schmuddeligen Taverne namens Zum Königsfuß hing. Früher war er öfter hier gewesen und hatte die Abende mit Pokerrunden und Banditenklatsch verbracht, wenn er keine Lust auf Eck Jargo gehabt hatte oder wegen des einen oder anderen
Besuchers sicherheitshalber auf Distanz blieb. Als er die schwere Tür aufschob und in die dämmrige Taverne trat, empfing ihn ein altbekanntes Aroma von Bier, Schweiß und Schießpulver. Über der Theke hatte der Besitzer - ein fetter, kleiner Mann mit einem gewitzten Gesicht - Tannen- und Mistelzweige aufgehängt, was dem typischen Geruch eine erfrischende Note verlieh.
    In den Schatten der Tür blieb Tigwid einen Moment stehen, um die Gäste zu beäugen. Ein betrunkener, vor sich hin murmelnder Mann an der Theke, eine Gruppe von Jungen in seinem Alter, die rauchten und sich mit erfundenen Verbrechen brüsteten, ein heimliches Liebespaar, das sich rasche Worte

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