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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Lesern.«
    Apolonia zog eine verdrießliche Miene. »Wenn Sie die Gaben hineingeschrieben hätten, könnten wir sie uns doch alle aneignen! Dann hätten alle Dichter Nutzen davon gehabt.«
    »Mach dir darüber keine Sorgen. Jeder von uns schreibt seine eigenen Blutbücher und behält seine Gabenfunde für sich. So ist es außerdem sicherer - sollte ein Blutbuch wieder in die Hände eines TBK-Terroristen fallen, könnte dieser womöglich seine alte Gabe zurückgewinnen. Noch sicherer als ein Buch ist ein Gehirn. Leider passt in Bücher einfach mehr rein.« Er wies auf Der Junge Adam . »Nun, wenn du so weit bist, lass uns beginnen.«

     
    Es war ein dunkler Nachmittag und es hatte aufgehört zu schneien. Still und versunken kamen die Häuser Tigwid vor, als er die Wohnung des Treuen Bunds verließ - schlummernde Riesen aus Beton und Stein, die sich tief in ihre Schneemäntel gemummelt hatten.
    Zhang, Fredo und Loo hatten sich angeboten, ihn zu begleiten, doch er wollte sich lieber alleine auf die Suche nach Apolonia machen. Er hatte sich fest vorgenommen, niemanden in Gefahr zu bringen. Außerdem wollte er zuerst mit Apolonia allein sein, denn sie hatten sich viel zu erzählen.
    Er vergrub die Hände in den Taschen seines Jacketts. Wie gut, dass er den Wollpullover von Fredo bekommen hatte, denn es war bitterkalt. In den Straßen roch es nach Tee und Gebäck und Tannennadeln. Die Zeit vor Weihnachten stimmte Tigwid immer ganz wehmütig. Es waren immer diese Tage, in denen er am deutlichsten spürte, wie alleine und heimatlos er doch war. Er begegnete nur wenigen Passanten, und die hatten es eilig, nach Hause zu ihren Lieben zu kommen. Irgendwo in einem Hinterhof erscholl der fröhliche Lärm einer Schneeballschlacht. Ein kleiner Junge rief nach seiner Schwester.
    Es tat gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Obwohl Tigwid sich noch ein wenig schwach fühlte und mit jeder Bewegung, die er mit seiner Schulter machte, ganz vorsichtig sein musste, war er froh, das Bett und die graue Wohnung verlassen zu haben. In den Jahren nach dem Waisenhaus hatte er sich angewöhnt, praktisch ständig draußen zu sein - in dem gemieteten Zimmerchen in Eck Jargo hatte er es höchstens zum Schlafen ausgehalten. Die Stadt war sein Zuhause. Die Straßen, die Marktplätze, die Brücken und die Gassenlabyrinthe, sie alle begrüßten ihn mit einem vertrauten, wenn auch schläfrigen Gesicht. Als er den Fluss erreichte, ergriff ihn ein Schauder. Die Wellen trugen weiße Schaumkronen. Am steinigen Ufer leckte das Wasser gierig den Schnee auf.

    Der Kanal wurde bald breiter und kahle Ahornbäume und Birken säumten den Fußweg. Rechts blickten stuckverzierte Hausfassaden auf Tigwid herab und es roch stärker nach Zimt, Kaminfeuern und Punsch. Auf der anderen Straßenseite stieg ein Vater mit seiner kleinen Tochter aus einem Automobil. Der Chauffeur trug einen großen Stapel bunt verpackter Pakete hinter ihnen ins Haus.
    Als die Turmspitze einer Kathedrale bei der Biegung des Flusses sichtbar wurde, kletterte Tigwid zum Ufer hinab und lief ein Stück über die flachen Steine. Große Abflussrohre erschienen vor ihm. Er zwängte sich an ihnen vorbei und sprang unter einem Vorhang herabtröpfelnden Wassers hindurch. Vor ihm war alles dunkel und das Rauschen der Rohre vibrierte im Boden. Tigwid zog eine Streichholzschachtel aus seinem Jackett, doch die Hölzchen waren von seinem Sturz in den Fluss aufgeweicht und brachen Stück um Stück, als er sie anzuzünden versuchte. Schließlich gab er es auf und stieg in die Dunkelheit hinab.
    »Apolonia?«, rief er, als er die Leiter erreichte. »Vampa?« Seine Stimme hallte unheimlich im niedrigen Raum. Er tastete sich um die Wand herum und stolperte über Vampas Bücher. Unbeholfen befühlte er die feuchte Matratze und rief wieder nach den beiden, doch nur das Quieken von Ratten antwortete ihm. Er tastete sich zurück und war insgeheim froh, den Kanalschacht schnell wieder verlassen zu können.
    Draußen kam ihm das Tageslicht grell und flimmernd vor. Erst als er einen Blick in den bewölkten Himmel warf, merkte er, dass es bereits dämmerte. Nach kurzem Zögern brach er zum Haus der Spiegelgolds auf. Gut möglich, dass Apolonia heimgekehrt war. In den vergangenen Tagen hatte er sich mit dieser Möglichkeit besonders angefreundet - bestimmt würde Apolonia es vorziehen, ihren Rachezug gegen die Dichter in Wärme und Sicherheit zu planen. Doch als er beim Haus ihres
Onkels ankam, leuchtete kein Licht in

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