Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
und einer Zeitung in der Hand. Tigwid erkannte den Bekannten aus Eck Jargo wieder, den alle wegen seiner angeblich vornehmen Herkunft und seiner intellektuellen Allüren den Grafen nannten. Tigwid setzte ein Lächeln auf. Wenn überhaupt ein Ganove über die Kunstprofessoren der Stadt Bescheid wusste, dann der Graf.
»He, wie geht’s?«
Der junge Mann blickte von seiner Zeitung auf und grinste. »Jorel! Noch auf freiem Fuß, gut, gut. Mich haben sie auch nicht erwischt - als Eck Jargo passiert ist, war ich Gast bei Freunden, die eine Villa besitzen.« Das sagte er mit seiner typischen Überheblichkeit.
»Was machst du so?«, erkundigte Tigwid sich, um seine Frage nach Professor Ferol in ein lockeres Gespräch einflechten zu können.
»Ich spiel heute Abend Kindermädchen.«
Tigwid nickte. Kindermädchen spielen bedeutete, dass ein Ganove vor einer Schänke auf Betrunkene wartete, um sie auszurauben. Das kostete wenig Mühe, bloß die Zeit brauchte
man, und im Winter hatten nur die wenigsten Banditen Lust, lange in der Kälte herumzustehen.
»Schon Beute gemacht?«, fragte Tigwid.
»Nee, noch zu früh … ich lese gerade diesen Artikel, hochinteressant.« Der Graf wies gerne darauf hin, dass er lesen konnte und Zeitungen nicht nur als Unterlage zum Schlafen benutzte. Nun pfiff er leise und blies ein paar Rauchringe. »Es gibt eine Terroristengruppe, hast du das gewusst? Die stecken hinter den Kindermorden, stell dir das vor. Das ist eine Riesensache, aber die Bande ist so geheim, dass nicht mal die größten Verbrecher sie kennen. Sogar ich habe jetzt zum ersten Mal vom TBK gehört. Die wollten vor acht Jahren die Regierung stürzen. TBK steht übrigens für Treuer Bund der Kräfte.«
Tigwid wurde blass. Mehrere Sekunden wollte seine Zunge sich nicht bewegen. Dann brachte er hervor: »Wer hat behauptet, dass es die gibt?«
»So’ne Kleine, die von ihnen entführt wurde und sich befreien konnte.«
Tigwid zog die Zeitung mit klammen Fingern an sich. Die Schlagzeile lautete: ENTTARNT. Als Tigwid das Wort entziffert hatte, benetzte bereits kalter Schweiß seinen Nacken. Dann packte er den Banditen am Arm und drückte ihm zitternd die Zeitung an die Brust. »Lies - mir das - bitte vor«, schnaufte er. »Alles. Den ganzen Artikel. Jetzt.«
Das Mädchen Loreley
A polonia schlug die Zeitung auf und las sich die Schlagzeilen durch, während ein Dienstmädchen ihren morgendlichen Tee einschenkte. Der Duft von Brötchen und Rührei hing in der Luft. Die bleiche Wintersonne hauchte Licht durch die Fenster und umschmiegte alles mit kühlem Frieden. Apolonia nippte an ihrem Tee. Der umfangreichste Artikel, den eine Fotografie von zwei finster dreinblickenden Männern begleitete, trug die Überschrift: GEFASST! STAATSANWALT FORDERT HÖCHSTSTRAFE. Apolonia überflog den Text, obwohl nichts darin stand, was sie nicht schon wusste:
Heute, zehn Tage nach dem gleichermaßen spektakulären wie schockierenden Wahrheitsbekenntnis des Entführungsopfers Apolonia Spiegelgold, stehen die ersten TBK-Terroristen seit dem Putschversuch vor Gericht: Rumford K. und Marel T. Beiden werden die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Brandstiftung, die Entführung und grausame Ermordung von mindestens zwölf Kindern vorgeworfen. Die Leichen konnten bei der Stürmung von Eck Jargo vor knapp drei Wochen geborgen werden - es handelt sich um Jungen und Mädchen zwischen sechs und fünfzehn Jahren, deren Verschwinden der Polizei nur in sieben Fällen bekannt war.
Die Motive des TBK sind noch unklar. Polizeiaussagen zufolge bekannten Rumford K. sowie Marel T. sich der Straftaten schuldig, ohne ihre Beweggründe zu erläutern. »Bei derart unberechenbaren Tätern«, äußerte sich Staatsanwalt Elias Spiegelgold gestern Morgen, »müssen wir dem einzigen überlebenden Opfer des TBK, Apolonia Spiegelgold, volles Vertrauen schenken.« Die Nichte des Staatsanwaltes hatte in den vergangenen Tagen mehrmals ihre Erlebnisse mit dem Treuen Bund geschildert. Unter anderem erklärte sie das Handeln des TBK damit, dass »Terroristen wie die des Treuen Bunds keine Ideologie vertreten; ihr einziges Ziel ist die totale Herrschaft, und solange diese außerhalb ihrer Reichweite liegt, werden sie so viel Schaden wie möglich anrichten, aus Rache an der funktionierenden Gesellschaft …«
Apolonias Blick driftete zu anderen Artikeln ab. Auf der nächsten Seite stand ein ausführlicher Bericht über die einstigen Verschwörer und ihren
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