Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Prozess: Elias Spiegelgold hatte die Todesstrafe für die drei verhafteten TBK-Anhänger gefordert und durchgesetzt. Bis zum heutigen Tag waren die Terroristen die letzten Verurteilten, die den Tod durch den Strang gefunden hatten. Viele, die Elias Spiegelgolds Härte vor acht Jahren befürwortet hatten, forderten auch heute die Exekution der beiden Terroristen; andere sahen in dem laufenden Verfahren Spiegelgolds rücksichtslosen Versuch, an den verjährten Höhepunkt seiner Karriere anzuknüpfen. Was Apolonia betraf, so kümmerten die Beweggründe ihres Onkels sie wenig. Sie wusste, dass er ein ehrgeiziger, durch und durch konservativer Mann war. Solange die Anhänger des Treuen Bunds ihre gerechten Strafen erhielten, war ihr gleich, was die Leute darüber dachten - die Wahrheit kannte ja sowieso niemand ganz.
Apolonia legte die Zeitung beiseite und machte sich an ihr
Frühstück. Sie aß mit großem Appetit und langsam; ein Bissen von ihrem Brötchen, ein Stück Rührei, ein Schluck Tee. Sie dachte an die gefassten Terroristen und den Brand in der Buchhandlung, den diese Männer gelegt hatten. Sie dachte an Morbus und die Dichter und wie sie eines Nachts heimgekehrt waren, erschöpft und mitgenommen vom Kampf gegen den TBK, um einen anonymen Brief an die Polizei zu schreiben, der verriet, wo die beiden besiegten Männer sich aufhielten. Sie dachte an ihren Vater … dachte an jenen späten Frühlingsmorgen, als sie ihn in der Buchhandlung gefunden hatte, rußverschmiert und verrückt … wie sie seinen Namen sagte, wieder und wieder, und an ihm zerrte, und er sich nicht bewegte; er ignorierte sie einfach, sie und die ganze Welt. Apolonia spießte das letzte Stück Rührei auf ihre Gabel. Schade, dass ihr Vater nicht mehr mitbekam, wie sie sich rächte. Wenn er nur verstehen könnte, dass jetzt alles wieder gut wurde, vielleicht würde er dann zurück zu seinem alten Selbst finden … aber nein. Apolonia ließ diese kindischen Hoffnungen nicht zu. Wenn Menschen sich einmal veränderten, konnten sie sich nicht zurückverwandeln. Im Leben gab es keine Schritte zurück, nur nach vorne. Immer und immer weiter nach vorne.
Die Gabel fiel auf den Teller und Apolonia ließ sich in ihren Sessel sinken. Mehrere Minuten saß sie reglos und dachte an alles Mögliche und gar nichts. Die verschneite Landschaft draußen blendete wie frisches weißes Papier. Das Gefühl von Schwere, das in den letzten Tagen immer intensiver geworden war, kroch ihr über die Schultern und schien sie hinunterziehen zu wollen … Nervös schlug Apolonia die Beine übereinander und räkelte sich im Sessel. Je mehr sie von Morbus’ Blutbüchern gelesen hatte - inzwischen waren es schon fünf -, desto öfter war sie mit Unbehagen aus der dort eingeschlossenen Welt in ihr eigenes Leben zurückgekehrt. Nach jedem Lesen kam ihr die Wirklichkeit deprimierender und langweiliger
vor, und was noch schlimmer war: Sie sehnte sich jedes Mal danach, so schnell wie möglich weiterzulesen, um ihre bedrückenden Gedanken zu vergessen. Denn obwohl der gelungene Auftakt zu ihrem Rachefeldzug gegen den TBK sie hätte erfreuen sollen, fühlte sie sich im Gegenteil … ja, wie eigentlich? Wie sollte sie die Stille in sich beschreiben?
Kurz entschlossen stand sie auf und lief durch das Haus, bis sie auf einen Bediensteten stieß. Sie fragte ihn, ob es hier ein Telefon gäbe, und der Mann führte sie in ein lichtes Zimmer neben der Eingangshalle. Als Apolonia alleine war, wählte sie die Nummer der Polizei und ließ sich mit Inspektor Bassar verbinden. Bis jetzt hatte sie sich nicht getraut anzurufen - schließlich lag der Tod des Polizisten noch nicht lange zurück -, doch nun konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Der Inspektor meldete sich mit leiser, beinahe misstrauischer Stimme.
»Ja, Inspektor Bassar? Hier spricht Apolonia Spiegelgold. Ich wollte fragen … es geht um den TBK und meine Zeugenaussagen. Ich würde gerne einen Insassen sehen, wenn es möglich ist. Sein Name lautet …« Sie hielt inne. Dann räusperte sie sich. »Er ist bekannt als Jorel. Oder Tigwid.«
Stille am anderen Ende der Leitung. Sekunden verstrichen. Apolonia hielt den Atem an.
»Ich glaube, ich erinnere mich an den Jungen, Fräulein Spiegelgold. Er ist geflohen, als er in eine andere Zelle verlegt werden sollte.«
Apolonias Mund war so trocken, dass sie nicht antworten konnte.
»Sind Sie noch dran?«
»… ja. Ja, ich bin da.«
»Sagen Sie, wie kommen Sie auf den Jungen?«
Der
Weitere Kostenlose Bücher