Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
sein, kann ich nicht beweisen, dass ich die Wahrheit sage. Es wäre zu viel verlangt, wenn ich dich um dein Vertrauen bäte, das sehe ich ein. Aber ich möchte dich bitten, mich anzuhören. Dann kannst du entscheiden, ob
du glaubst, dass Magdalena eine Dichterin war oder ob sie zum Treuen Bund gehörte.
Vor vielen Jahren war deine Mutter ein leidenschaftliches Mitglied in einer politischen Verbindung. Sie interessierte sich nicht nur für die Wissenschaft der Mottengaben - sie nahm auch aktiv an der Diskussion teil, wie man diese Gaben einsetzen könnte, um die ganze Menschheit davon profitieren zu lassen. Wir beschlossen damals, dass es das Beste wäre, wenn wir unsere Gaben der Regierung zur Verfügung stellten. Andere waren dagegen und wollten, dass wir unser Können für uns behalten, dass wir eine geheime Elite bleiben, die im Dunkeln agiert. Magdalena war die Mutigste von uns allen. Da ihr privilegierter Stand in der Gesellschaft es ihr leichter machen würde als uns anderen, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen, wollte sie sich zuerst als Motte offenbaren. Doch bevor es dazu kam, wurde sie ermordet. Das alles weißt du bereits. Was du wahrscheinlich nicht weißt, ist, dass ein Teil unserer Gemeinschaft sich gegen uns verbündet hatte, um die Menschen zu manipulieren. Sie waren kurz davor, die Herrschaft an sich zu reißen. Damals hieß es handeln - sie oder wir würden triumphieren. Wir sahen die einzige Möglichkeit, die Freiheit der Menschen zu bewahren, darin, die Regierung zu übernehmen, bevor die anderen Motten es tun konnten. Das geschah vor acht Jahren. Die anderen Motten, die sich später Dichter nannten, sorgten dafür, dass unser Vorhaben missglückte, und wir wurden als Terroristen bekannt. Seitdem leben wir zurückgezogen und sind gezwungen zuzusehen, wie die Dichter sich Schritt für Schritt ihrem Ziel nähern, die Macht an sich zu reißen. Doch dann machte Bonni eine Prophezeiung, die besagte, dass eine junge Motte erscheinen und den Kampf zwischen Dichtern und Treuem Bund entscheiden würde. Diese Motte bist du, wie du weißt. Ich hätte eher darauf kommen müssen, dass Magdalenas
Tochter nicht nur ihre Gabe, sondern auch ihren Kampf weiterführen würde. In dir fließt das Blut deiner Mutter, aber auch das Blut von Nevera; so bist du an beide gebunden. Es liegt natürlich an dir, wem du folgen möchtest. Aber vielleicht sollte ich dir noch etwas mehr über Nevera sagen. Dinge, die sich vor deiner Geburt ereignet haben und von denen du nichts wissen kannst, denn Nevera hält sie gewiss geheim.« Er atmete tief durch und legte die Stirn in Falten. Dann begann er zu erzählen.
»Nevera wurde drei Jahre nach Magdalena geboren, wie deine Mutter wuchs sie in friedlichen Verhältnissen auf. Ich glaube, deine Großmutter war Klavierlehrerin - Magdalena hat mir zu ihrer Zeit manch ein Lied vorgespielt. Nevera war ein ehrgeiziges Kind, und als man ihr sagte, dass die Damen der Gesellschaft alle musizieren, übte sie sehr fleißig. Ich vermute, dass sie eine bessere Klavierspielerin war als Magdalena, die ihre Kindheitstage mehr mit Träumen als mit praktischen Dingen verbrachte. Aber Nevera wollte in allem besser sein als ihre große Schwester - sie besaß schon damals eine merkwürdige Eifersucht auf die, die ihr am nächsten standen. Als deine Mutter Alois heiratete und in höhere Kreise aufstieg, war Nevera von Neid zerfressen. Sie war damals erst fünfzehn und wohnte weiterhin im bescheidenen Haus ihrer Eltern, während Magdalena - so malte sie es sich aus - prunkvolle Feste feierte und in Luxus schwelgte. Von Anfang an hegte sie den Verdacht, dass Magdalena Alois durch ihre Mottengaben an sich gebunden hatte, und sie warf Magdalena sogar vor, ihren Mann wegen seines Geldes geheiratet zu haben. Das hat mir Magdalena selbst erzählt - ich erinnere mich, wie sie mir ihr Herz ausschüttete, denn es bedrückte sie sehr, dass Nevera sich nicht für sie freuen konnte. Ich vermute, zu dieser Zeit begann Nevera, ihre Eifersucht auf Magdalenas Mottengaben zu richten, in denen sie den
Schlüssel zum Aufstieg sah. Die vertrauensselige Magdalena glaubte Neveras Herz zu gewinnen, indem sie sie überallhin mitnahm und in die Gesellschaft einführte. So kam Nevera auch zu uns Motten. Ich erinnere mich noch daran, wie sie zum ersten Mal einem unserer Treffen beiwohnte. Sie war ein unfreundliches Mädchen, verschlossen und hochmütig aus Angst, nicht akzeptiert zu werden. Sie besaß auch kaum
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