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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihm bereits alle Zecken entfernt und das Fell gekämmt und er fühlte sich so erfrischt und wohl wie lange nicht mehr.
    Rutsch mal , sagte Apolonia. Hunger machte ihr Platz und legte anschließend den Kopf auf ihren Arm. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Es war eine stockfinstere Nacht und so kalt, dass Frost die Straßenlaternen überzog. Hund und Mädchen kuschelten sich tief in die Decken. Es war ganz dunkel, nur die Glut, die im Kamin glühte, tauchte das Zimmer in sanftes Licht. Apolonia döste ein …
    Sie träumte, dass sie wieder klein war. Sie strich durch die langen Flure der Buchhandlung, umgeben von Wandregalen,
und fand ihren Vater bei den Klassikern stehen, mit der Lesebrille in der Hand, die ersten und letzten Seiten der Bücher überfliegend. Er legte einen Arm um sie, mehr stolz als liebevoll.
    »Geschichten sind die Essenz des Lebens, Apolonia«, sagte er, so ernst wie immer, und sie hatte das Gefühl, dass es auf der ganzen Welt keinen gescheiteren Menschen gab. »Menschen kommen und gehen. Aber Geschichten überdauern die Zeit, denn sie sind hier in den Büchern, sie sind wie Schätze eingeschlossen und leben ewig. Du, Apolonia, wirst all das hier erben und nach mir die Bücher kaufen, verkaufen und lieben, die die ganze Schönheit der Welt in sich tragen.«
    »Ja«, sagte Apolonia. »Das will ich tun, Vater.«
     
    Die Königin, die auf der Welt tanzt!
    Das Bild kam immer wieder, grell und leuchtend. Apolonia fuhr aus dem Schlaf, als hätte jemand ihren Namen geschrien. Hunger saß aufrecht im Bett und winselte leise.
    »Was ist denn?«, flüsterte sie müde.
    Das Haus. Es ist dunkel und still. Tauben und Kutschenrattern in den verlassenen Korridoren.
    »Was?« Apolonia blinzelte.
    Wer ist Tauben und Kutschenrattern? Ein Hund?
    Hunger wackelte ungeduldig mit den Ohren.
    Das Bild von einem Menschenjungen. Er steht an der Straßenecke im Regen und sieht Hunger an. Er stellt sich vor als Tauben und Kutschenrattern.
    »Was?« Apolonia war plötzlich hellwach. Sie richtete sich auf und starrte Hunger an.
    Ein Menschenjunge? Wie konnte er sich vorstellen?
    Wie du.
    »Wie … ich?« Das war unmöglich! Niemand konnte wie sie mit Tieren …

    Er hat sich vorgestellt mit den Bildern von Tauben und Kutschenrädern?
    Nein … mit den Geräuschen.
    »Den Geräuschen … er hat versucht, seinen Namen zu erklären. Seinen menschlichen Namen.« Apolonia schlug die Decke zurück, stand auf und fasste sich an den Kopf. Tausend Gedanken bestürmten sie auf einmal.
    Jemand hatte mit Hunger gesprochen. Ein Junge. Er war fähig gewesen, Hunger seinen Namen mitzuteilen, wenn auch ungeschickt - schließlich gab es bei Tieren keine Klangnamen, nur Bilder. Und dieser Junge war im Haus.
    Apolonia fuhr zu Hunger herum. Der Junge ist hier?
    Hunger witterte die Luft. Ja.
    Ein Einbrecher! Ob es etwas mit ihrem Onkel zu tun hatte? Oder - ihrem Vater? Apolonia wurde ganz flau zumute.
    Zeig mir, wo!
    Apolonia schlüpfte in einen Morgenmantel und Pantoffeln, zündete die Öllampe auf ihrem Nachtschrank an und verließ mit dem Licht das Zimmer. Hunger lief ihr hinterher.
    Die Korridore lagen in tiefer Dunkelheit. Die Lampe malte einen matten Lichtkreis um sie, doch alles, was eine Armeslänge von ihr entfernt war, blieb ihrem Blick verborgen. Hunger schnupperte über den Teppich.
    Der Lampenschein glitt über die Gemälde hinweg, die die Wände schmückten. Ein Dutzend gemalter Augen folgten Apolonia, als sie an ihnen vorbeilief. Sie glaubte, in jedem Zimmer, an dem sie vorbeikam, unheimliche Schatten wahrzunehmen, aber das Haus schwieg wie ein Grab.
    Jemand war hier. Ein Einbrecher, hier.
    Und doch lag Apolonia nichts ferner, als Hilfe zu holen. Wer auch immer ins Haus eingedrungen war, hatte sich Hunger vorstellen können. Er war nicht mit den Absichten eines gewöhnlichen Diebes gekommen.

    Hunger blieb unschlüssig stehen. Sein Geruch ist hier zu schwach … vielleicht ist er schon weg.
    Streng dich an!, flehte sie. Weißt du, wie er hereingekommen ist?
    Warte … er war gerade ganz nah!
    Apolonia fuhr erschrocken herum. Da, gedämpft durch die Wände, hörte sie Schritte. Ihr Puls raste.
    Hier!
    Hunger lief auf die nächste Tür zu, Apolonia folgte ihm. Sie rannten durch den dunklen Raum bis zur gegenüberliegenden Tür, Apolonia schob sie auf und sie durchhasteten den langen Flur. Am Ende des Flurs huschte ein Schatten vorbei. Ihr wurde schlecht vor Aufregung. Sie hob ihr Nachthemd an, um nicht zu stolpern, und rannte,

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