Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
so schnell sie konnte.
Sie bogen um die Ecke, liefen an Fenstern und Treppen vorbei, liefen durch das finstere Haus.
Wo ist er hin? , rief sie Hunger zu. Ein Schauder glitt ihr über den Rücken, als sie erkannte, dass sie zu ihrem Zimmer zurückliefen. In der Ferne knarrte etwas.
Im tanzenden Lampenschein tauchte endlich die Tür zu ihrem Zimmer auf. Sie war weit aufgerissen.
Apolonia blieb wie versteinert stehen. Eisiger Nachtwind blies ins Zimmer und ließ die Bettvorhänge tanzen. Das Licht ihrer Lampe glitt über einen Jungen, der am Fenster stand. Er hatte sich tief hinausgebeugt und drehte sich hastig um, als er das Licht bemerkte. Er trug ein dunkelgrünes, etwas zu großes Jackett.
Der Lieferjunge.
»Stehen bleiben!«, rief Apolonia.
Hunger rannte auf den Jungen zu. Der Junge öffnete den Mund. Plötzlich flog die Bettdecke hoch. Der Stoff schoss durchs Zimmer, blähte sich auf wie ein Fallschirm und fiel über Hunger. Ein klägliches Jaulen drang durch die Decke,
als sich der Hund darin verfing; der Junge war inzwischen aus dem Fenster geklettert.
Apolonia sprintete los. Sie warf die Lampe mehr oder weniger auf ihren Tisch und packte die nächstbeste Waffe, die sie finden konnte: eine lange Pinzette, mit der sie Hunger von seinen Zecken befreit hatte. Dann war sie am Fenster angekommen und beugte sich hinaus. Zu ihrem Erstaunen war ein langes schwarzes Seil am Fenster befestigt, das bis hinunter zur Straße hing. Dort stand der Junge im Schein der Straßenlaterne. Er blickte zu ihr auf. Dann lief er davon.
Ich kann hier nicht runter , sagte Hunger hinter Apolonia, der sich endlich aus der Decke befreit hatte.
Lauf durch den Hinterausgang, dann folge meiner Spur, so schnell du kannst!
Apolonia holte tief Luft. Dann schwang sie die Beine aus dem Fenster, packte das Seil und hangelte sich hinab.
Der Wind drang durch ihre Kleider und ließ sie frösteln - dabei zitterte sie schon vor Schwindel und Angst. Ihr Zimmer befand sich im dritten Stock.
Ihre Füße rutschten und sie glitt die letzten zwei Meter am Seil hinab. Ihre Handflächen brannten. Dann stieß sie mit dem Rücken gegen die Wand und landete auf den Füßen.
Einen Moment lang war sie unfähig, sich zu bewegen. Dann verebbte allmählich das weiche Beben in ihren Gliedern und Apolonia taumelte los.
Am Ende der Straße stand der Junge. Als er sie sah, lief er davon.
»Bleib stehen!« Ihre Stimme hallte unheimlich durch die Nacht.
Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Apolonia bog in die nächste Straße und sah, wie der Einbrecher in einem Hauseingang verschwand. Er saß in der Falle!
Apolonia keuchte. Die Pinzette in ihrer Hand fühlte sich
rutschig und heiß an. Vor dem Hauseingang blieb sie stehen, dann hob sie die Pinzette wie ein Messer und stieß die Tür auf. Sie war nur angelehnt. Mit einem sanften Luftzug glitt sie nach innen auf.
Apolonia trat ein. Finsternis empfing sie, nur durch die Glasscheiben in der Tür drang Licht und umhauchte die Treppen, die nach oben und unten führten. Ihr Atem leuchtete in der Kälte.
Plötzlich packte sie jemand von hinten.
»Dieb-«
Eine Hand presste sich auf ihren Mund und erstickte den Schrei. Der Junge riss ihr die Pinzette aus der Faust. Er lächelte, ganz nah an ihrem Ohr. »Ist es wirklich Diebstahl, wenn die Beute einem freiwillig folgt?«
Eine Nacht im Treppenhaus
D ie Pinzette fiel klirrend zu Boden.
»Nicht schreien«, mahnte der Junge hinter ihr. »Nicht schreien … Ich will dir nichts tun. Verstanden?«
Vorsichtig löste sich die Hand von ihrem Mund und glitt zu ihrem Hals hinab. Apolonia rang nach Atem.
»Ich weiß es«, japste sie. »Ich weiß, wer du bist! Du bist nicht nur Mone Flamms Lieferbote.«
»Flamm - woher …« Der Junge hielt lächelnd inne. »Und du bist nicht nur Spiegelgolds Nichte, sondern auch eine neugierige Schnüfflerin, die anderer Leute Gespräche belauscht.«
»Lass mich los!« Als sie mit dem Fuß ausholte, um nach ihm zu treten, wich er geschmeidig zur Seite und ließ von ihr ab. Einen Moment konnte Apolonia ihn in der Dunkelheit nicht sehen. Dann tauchte sein Gesicht im blassen Mondlicht auf. Ein Grinsen malte ihm zarte Grübchen.
Apolonia ballte die Fäuste. »Jetzt hast du verloren. Du hast dich gleich zweimal verraten, erst mit dem Fenster und jetzt mit der Decke. Motte! Oder sollte ich dich besser Tauben und Kutschenrattern nennen?«
Die Augen des Jungen flackerten. »Das weißt du von dem Hund, nicht wahr? Du kannst wirklich mit Tieren
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