Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
sprechen!«
Seine Worte trafen Apolonia wie ein Schwall Eiswasser. Sie blinzelte, dann stampfte sie fest mit dem Fuß auf. »Schweig! Du bist festgenommen!«
Der Junge kratzte sich am Nacken. »So, und weshalb? Hausfriedensbruch? Ich würde wetten, dass dein Onkel lieber geheim hält, wer alles in seinem Haus rumspaziert.«
»Du bist festgenommen wegen Mitgliedschaft in einem verschwörerischen Geheimbund, dem organisiertes Verbrechen, Brandstiftung und Mord zur Last gelegt werden!«
Der Junge lächelte. »Das musst du mir aufschreiben, so viel kann ich mir nicht merken.«
Apolonia spürte, wie Zorn in ihr aufflammte. Blitzschnell schnappte sie die Pinzette vom Boden.
»Was, willst du mir vielleicht die Augenbrauen zupfen?« Der Junge kam lässig auf sie zu - als plötzlich die Tür aufschwang und ihn von den Füßen fegte. Mit einem schmerzerfüllten Laut fiel er, landete auf den Stufen der Treppe und kugelte in die Dunkelheit. Apolonia schnappte nach Luft.
Komm ich zu spät? Verdutzt lauschte Hunger dem Poltern des stürzenden Jungen.
Benommen öffnete er die Augen. Noch bevor er Apolonia und ihre Begleiter erkennen konnte, erklang das tiefe, grollende Knurren eines Hundes.
»Vorsicht. Eine falsche Bewegung und Buttermaus beißt dir den Kopf ab.« Apolonia saß mit gekreuzten Beinen vor ihm. Umgeben von einem Dutzend Tiere.
Blinzelnd blickte der Junge sich um. Neben dem großen Bernhardinermischling hockten Hunger und drei zerzauste Straßenkatzen; auf Apolonias anderer Seite schmiegten sich vier Marder aneinander. Zwei stattliche pechschwarze Krähen saßen auf ihren Schultern und beäugten den erwachenden Jungen aus scharfen Murmelaugen. Stöhnend rieb er sich die
schmerzende Schulter, woraufhin der Bernhardiner erneut markerschütternd knurrte.
»Ich habe dir bereits gesagt, dass du aufpassen sollst. Buttermaus kann schnelle Bewegungen nicht leiden«, sagte Apolonia. Wie zur Bestätigung legten beide Krähen die Köpfe schief.
»Buttermaus, hm?«, murmelte der Junge. Langsam setzte er sich auf und fuhr sich so beiläufig wie möglich durch die dunkelblonden Haare. »Treffender Name für so’n süßen Fratz.«
Apolonia machte ein verkniffenes Gesicht. »Jemand, der Tauben und Kutschenrattern heißt, ist wohl kaum berechtigt, darüber zu urteilen.«
Der Junge lächelte, bis Apolonia ihn barsch unterbrach: »Wer hat gesagt, dass du Grinsepeter spielen darfst? Dies ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um zu kichern, Tigwid!«
»Tigwid?«
»So heißt du doch. Wie soll Tauben und Kutschenrattern denn sonst klingen? Oder heißt du vielleicht Gurr-Ratter?«
Der Junge grinste verwundert. »O Gott. Das ist … Also, ja, nenn mich Tigwid, ich heiße Tigwid, in Ordnung?« Er hob beschwichtigend die Hände, als Apolonia ihn anfunkelte.
»Ich finde es nicht lustig, sondern bemitleidenswert, wie schlecht du deinen Namen für die Tiere übersetzt hast.«
»Du hast ihn nur falsch ausgesprochen. Wenn ich mich vorstellen darf: TIG-wid, nicht Tig-WÜDD. Aber scheu dich nicht, mich Tig zu nennen.«
»Ich scheue mich nicht, dich irgendwie zu nennen.«
Der Junge runzelte eine Augenbraue. Er hatte sehr bewegliche, dunkle Augenbrauen, die sich in allen Varianten verziehen konnten. »Ich glaube, wir haben falsch angefangen. Tut mir leid, dass ich dich vorher so erschreckt habe - aber ich
musste dich hierherlocken, um zu testen, ob du es wirklich kannst. Und du kannst es wirklich. Du kannst mit ihnen sprechen, ich wusste -«
»Hör auf mit dem Geplapper! Du verstehst wohl nicht ganz, in welcher Situation du dich befindest!«
Tigwid rieb sich den Hinterkopf. »Man könnte meinen, nicht ich, sondern du wärst mit dem Schädel gegen sämtliche Stufen geknallt, so stinkig wie du bist. Ich wollte mich ja bloß vorstell-«
»Hör mir genau zu, denn ich wiederhole es nicht noch einmal, auch wenn du anscheinend für gewöhnlich einen Trottelbonus genießt: Du bist festgenommen! Aber ich schlage dir ein Tauschgeschäft vor, von dem wir beide profitieren können - vor allem du. Ich werde dich nicht der Polizei ausliefern, denn an Kleinganoven bin ich nicht interessiert. Allerdings tue ich das aus reiner Großzügigkeit. Und als Gegenleistung verrätst du mir, wo der Treffpunkt der Motten ist.«
Tigwid sah sie eine Weile an, als würde er kein Wort verstehen. Ein ungeduldiges Schnabelschnappen von einer der Krähen reichte allerdings, um ihn zum Sprechen zu bewegen.
»Apolonia - so heißt du doch -,
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