Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
ist.«
»Du hast mich ja nicht ausreden lassen.« Er richtete sich feierlich auf und versuchte, eine gelassene, vertrauenswürdige Miene aufzusetzen, was angesichts mehrerer Dutzend Krallen, Reißzähne und spitzer Schnäbel nicht gerade leicht war. »Ich glaube, wir beide haben dasselbe Ziel. Unsere Verständigung stimmt bloß nicht ganz. Was durchaus an deiner Drohung liegen könnte, mich zerfleischen zu lassen.«
»Oder daran, dass du in mein Haus eingebrochen bist!«
Tigwid nickte. »Ich bin aber bloß deinetwegen eingebrochen.« Er setzte sich wieder und kreuzte die Beine. Nach kurzem Zögern ließ Apolonia sich ebenfalls nieder. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Oh, ist dir kalt?« Der Junge lupfte fragend an seinem Jackett, doch die beiden Krähen hüpften bereits von ihrer Schulter und ein Marder schmiegte sich um ihren Nacken. Es sah aus, als würde sie eine üppige Pelzstola mit zwei Augen und Zähnen tragen. Hunger ließ sich auf ihren Schoß sinken und sie legte ihre Hände auf seinen Rücken.
»Ähm … jedenfalls bin ich eingebrochen, weil ich sehen wollte, ob du es wirklich kannst - mit Tieren sprechen, meine ich. Mir wurde nämlich eine Prophezeiung gemacht.«
»Du glaubst also an Prophezeiungen.«
Der Junge lächelte bemüht. »Nur wenn sie von einer Motte kommen.«
Ein eisiges Glitzern erschien in Apolonias Augen. Also hatte der Junge doch Kontakt zu anderen Motten, sie hatte es doch gewusst! »Erzähl weiter.«
»Die Prophezeiung besagt, dass ich ein Mädchen finden
muss, das Ratten tanzen lässt und - jedenfalls wird mich dieses Mädchen zu der Antwort auf meine sehnlichste Frage führen.«
»Und die wäre?«
Tigwid beugte sich näher zu ihr vor, als könne sie jemand belauschen. »Ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken: Woher kommen unsere Gaben? Ich meine - wieso können wir diese Dinge und andere nicht? Was bedeuten sie? Und vor allem, wie funktionieren sie? Einen Gegenstand bewegen, ohne ihn zu berühren, müsste doch unmöglich sein - schließlich braucht es doch irgendeine Kraft, eine physische, reale Kraft!«, flüsterte er, und seine Augen leuchteten. »Hast du nie darüber nachgedacht?«
Apolonia zog betont gelangweilt die Nase hoch. »Das ist das Dümmste, was ich seit Langem gehört habe. Stellst du dir vielleicht auch häufiger die Frage, warum du blond bist?«
»Nein«, erwiderte er trocken. »Darauf gibt es eine Antwort. Meine Mutter oder mein Vater muss blond gewesen sein. Aber was ist mit den Mottengaben? Erben wir die auch von unseren Eltern?«
Apolonia sagte nichts, weil sie für einen Augenblick wirklich darüber nachdachte. Schließlich schüttelte sie ungeduldig den Kopf. »Das ist doch wirklich egal! Mich interessiert nicht, woher diese verfluchten Motten ihre Gaben haben!«
»Meinst du nicht, dass es teuflische Gaben sein könnten, wenn du die Motten so hasst?« Ein nachdenkliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Wer weiß. Vielleicht sind diese Fähigkeiten wirklich etwas Böses. Ich habe nämlich noch nie von jemandem gehört, der solche Fähigkeiten gut fand. Mit Tieren sprechen, Gegenstände bewegen, die Gedanken anderer hören, von der Zukunft träumen - das macht den meisten Menschen doch Angst. Darüber erzählen die Bettelweiber in der Stadt ihre Schauermärchen. Vielleicht ist wirklich etwas
Schlechtes, etwas Unmenschliches in uns … Wieso hasst du die Motten überhaupt - doch nicht nur wegen ihrer Gaben …«
»Sie sind kaltblütige Mörder«, presste sie hervor. »Und mir ist egal, warum sie ihre Gaben haben und ob die Gaben gut sind oder nicht. Die Menschen mit diesen Gaben sind schlecht.«
Tigwid blickte die Treppe hinauf. Dünnes Morgenlicht schimmerte auf den Stufen. »Nein. Das stimmt nicht. Ich habe Mottengaben - zugegeben bin ich ziemlich talentlos, aber immerhin hab ich sie - und ich bin trotzdem kein schlechter Mensch. Na gut, hin und wieder lass ich mal was mitgehen, aber hier eine Golduhr, da eine Kette, das entscheidet doch nicht über meine Menschlichkeit, oder? Glaub mir, verglichen mit vielen Leuten, die ich kenne, bin ich wirklich harmlos. Na schön, ich bin nicht unbedingt ein Held. Mut und Frömmigkeit und so was ist nicht mein Ding, ehrlich gesagt hau ich immer ab, wenn’s wirklich brenzlig wird, aber …«
Apolonia massierte sich die Stirn. »Herrgott, muss ich jetzt der Beichtvater von einem dahergelaufenen Dieb sein!«
»Ich sag ja bloß, dass diese Gaben, woher sie auch
Weitere Kostenlose Bücher