Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
kommen, was sie auch bedeuten mögen, niemanden zu einem schlechten Menschen machen. Ich verstehe nicht, wieso du sie hasst.«
»Ich hasse eine bestimmte Gemeinschaft von Motten. Eine Vereinigung von Terroristen! Und soviel ich weiß, gehören alle Motten dieser Vereinigung an.«
»Also, ich hab noch nie was davon gehört. Und du bist ja auch nicht in dieser Vereinigung, oder?«
»Ich bin ja auch keine - du weißt schon!«
»Doch. Genau das bist du.« Tigwid lehnte sich vor. »Und deshalb sitze ich hier vor dir und erzähle dir von meiner Prophezeiung.«
»Nein. Du sitzt hier, weil du in meiner Gewalt bist, Motte.«
Zum ersten Mal erwiderte er ihren Blick fest und ernst. »Ich bin in niemandes Gewalt. Ich bin ein Bote Mone Flamms. Kein Schloss, keine Tür, kein Riegel kann mich aufhalten. Und du auch nicht. Und du musst es auch nicht versuchen. Du sollst mit mir kommen, Apolonia! Es gibt … ein Buch. Ein Buch der Antworten. Alles, was man über Motten und ihre Gaben wissen kann, steht darin. Weißt du, was das bedeutet? Nicht nur ich finde die Lösung, sondern auch du! Überlege es dir - alle Geheimnisse der Motten stehen in diesem Buch. Wer sie sind, warum sie ihre Gaben haben, wo sie sich aufhalten … Alles in einem einzigen Buch. Und ich weiß, wo es ist.«
Apolonia betrachtete ihn unbewegt. »Wozu brauchst du dann mich?«
Tigwid zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht lesen, hab’s nie gelernt. Außerdem kann nicht jeder dieses Buch lesen - nur bestimmte Leute. Mir wurde prophezeit, dass ein Mädchen mir die Antworten liefern wird, nach denen ich suche. Ein Mädchen wie du.«
»Und wo soll dieses Buch sein?«, fragte Apolonia misstrauisch.
»Es ist am sichersten Ort der Stadt. Eck Jargo .«
»Eck Jargo!« Sie riss die Augen auf. Natürlich hatte sie von der berühmten Räuberhöhle gehört. Seit Jahren suchte die Polizei schon vergebens nach dem Versteck. Und nicht nur Verbrecher waren da, sondern auch Verschwörer und … und terroristische Geheimbünde. Wenn es wirklich ein Buch der Antworten gab, wie der Junge sagte … dann war es doch gewiss im Besitz der Motten selbst …
»Woher weißt du, wo Eck Jargo ist?« Apolonia bemühte sich, unbeeindruckt zu klingen, doch es glückte ihr nicht.
Der Junge stand auf und strich sich sein Jackett glatt. Dann reichte er Apolonia eine Hand, aber sie erhob sich, ohne seine Hilfe anzunehmen, und Tigwid zog die Hand unauffällig zurück.
»Ich sagte doch, dass ich ein Lieferjunge von Mone Flamm bin. Ich habe meine Kontakte. Also, kommst du mit? Ich bitte dich.« Tigwid lächelte betont liebenswürdig, doch das konnte nicht über das flehentliche Flackern in seinen Augen hinwegtäuschen. Oder war das auch beabsichtigt?
Apolonia starrte ihn eine Weile an. Eck Jargo , Grundgütiger! Sollte sie diejenige sein, die das unauffindbare, das unsichtbare Wirtshaus Eck Jargo endlich …
»Na schön. Ich komme mit.« Und mühevoll fügte sie hinzu: »Aus purer Hilfsbereitschaft, verstanden?«
Der Weg
D as Dienstmädchen staunte nicht schlecht, als um fünf Uhr morgens die Klingel schrillte. Verdutzt öffnete sie die Haustür. Vor ihr stand niemand anders als die Nichte des Hausherrn. In Unterwäsche.
Das Dienstmädchen stieß ein erschrockenes Quieken aus. »Fräulein Spiegelgold! Was -«
Apolonia zog sich würdevoll ihren Morgenmantel zurecht und drängte sich am Dienstmädchen vorbei. »Nur ein Morgenspaziergang. Und kein Wort darüber an meine Tante.«
Sie lief die lange Wendeltreppe hinauf in ihr Zimmer. Die Tür stand noch offen. Sie dachte daran, wie wohl Trude reagieren würde, wenn sie am Morgen in ihr Zimmer kam und es leer vorfand. Fast tat die alte Amme ihr leid.
Als Apolonia eintrat, war der Junge bereits im Zimmer. Gerade rollte er sein Seil ein und machte das Fenster zu.
»Trägst du das eigentlich immer mit dir rum?«, fragte Apolonia unfreundlich und schloss die Tür.
»Man kann nie wissen, wer einem nachts aus Fenstern folgen will.« Er verstaute das Seil in der Innentasche seines Jacketts. Dann standen sie sich schweigend gegenüber, jeder am anderen Ende des Zimmers, und blickten sich an. Apolonia wurde bewusst, wie sie aussah. Aus irgendeinem Grund
musste sie daran denken, was Trude einmal gesagt hatte, als sie aus der Nonnenschule heimgekommen war: »Um Gottes willen, wo sind Ihre Handschuhe? Man kann ja Ihre bloßen Hände sehen!«
Sie räusperte sich. »Also schön. Das Bett. Ich meine, unter das Bett. Mit dir.«
»Was?« Der
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