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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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verschränkte
die Arme auf dem Rücken und blickte zu den anderen Dichtern am Tisch zurück. Manthan war aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Leise beschworen ihn die anderen Dichter, dass er einer von ihnen war, sie liebte und Erasmus Collonta hasste. Mit geringschätziger Miene wandte sich Morbus ab.
    »Die Bücher, die ich veröffentliche, sind keine reinen Wahrheiten. Wie du soeben am eigenen Leib erfahren konntest, sind diese nämlich nicht sehr leicht zu verkraften. Man muss sie erst filtern, um sie einem breiten Publikum ohne Mottenresistenz vorsetzen zu können. In meinen publizierten Werken sind nur Auszüge der Wahren Worte, des Grundtextes. Ich träufle die Wahren Worte in das Buch hinein wie die Stimmen von Sirenen in ein sterbliches Lied. Was glaubst du, was geschähe, würde man ein Lied komponieren mit dem puren Gesang der Sirenen? Kein gewöhnlicher Mensch würde es ertragen! Und so verträgt auch kein gewöhnlicher Mensch die echten Bücher mit dem wahren Text. Alle Leser würden davon verrückt, weil sie die Geschichte nicht mehr von ihren eigenen Erinnerungen unterscheiden könnten. So mächtig sind Geschichten! So wahr können sie werden, wahrer als die Wirklichkeit… Wer von meinen Figuren liest, nimmt sie in sich auf und besitzt mit einem Mal zwei Persönlichkeiten. Du hast ja gesehen, was mit den armen Polizisten in Eck Jargo geschehen ist. Sie haben einen einzigen Satz gelesen, nur einen winzig kleinen, aber er war wahr: Du bist tot. « Morbus lächelte. »Ist das nicht wundervoll? Endlich haben wir die Wahrheit gefunden! Und wir haben sie gefangen, mit den Regeln unserer primitiven Sprache. Wir können die Wirklichkeit festhalten, eine Wirklichkeit, an die jeder, jeder Mensch in der Welt, glaubt. Nur Motten, die von Geburt an fähig sind, in die Geister anderer einzudringen, die von Geburt an fähig sind, neben ihrer eigenen Persönlichkeit beliebig viele weitere in sich zu beherbergen, können die pure Wahrheit ertragen,
ohne schizophren zu werden. Deshalb, Apolonia, hat sich die kleine Wahrheit von Manthan nicht in deinen Verstand eingefügt, sondern blieb ein Fremdkörper im Wortstrom deines Bewusstseins.«
    Apolonia dachte an die Polizisten und ihren schrecklichen Tod. Waren sie wirklich nur wegen eines Satzes gestorben? Jetzt, da sie selbst die drei Blutsätze hatte lesen müssen, schien es ihr absolut vorstellbar.
    »Woher hatten Sie den Satz?«
    »Oh, eine interessante Frage. In der Tat war es äußerst schwierig, ihn zu gewinnen. Um nicht zu sagen, es war eine kleine Meisterleistung meinerseits. Ich musste ihn gerade in dem Augenblick aufschreiben, in dem der Junge mit den aufgeschlitzten Pulsadern erkannt hat, dass er starb.«
    Apolonias Gedanken befanden sich in einem fieberhaften Taumel. Mein Gott, dachte sie. Das kann nicht sein… Eine Gänsehaut zog ihr wie eine Eiskruste über den Rücken. »Sie schließen echte Menschen in Ihre Bücher. Deshalb sind sie wahr! Die Bücher sind echt, weil in ihnen echte Menschen gefangen sind …«
    Morbus musterte sie geduldig. Dann ging er vor ihr in die Knie. Er wischte ihr eine Träne von der Wange, von der sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie da war, und zerrieb das Wasser nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. »Menschen… was sind Menschen? Findest du es schlecht, Menschen in Bücher zu schließen , wie du es nennst?«
    »Ja«, hauchte Apolonia. Sie schluckte. »Ja, natürlich, Sie Wahnsinniger!« Sie hatte es gewusst. Die Motten hatten keine Seele. Sie waren boshaft, durch und durch.
    Morbus senkte den Kopf. »Weißt du, was ich wirklich schlecht finde? Wirklich böse? Selbstsucht. Und das Schlimme ist, dass wir alle ausnahmslos selbstsüchtig sind. In unseren Herzen lieben wir nur uns, und alles, was wir tun, wird von
dieser Selbstliebe gelenkt - jedes noch so noble Opfer. Es mag aussehen, als wären wir den Menschen nahe, die wir lieben, aber im Augenblick der Wahrheit, im Angesicht des Todes stehen wir einsam in der Weite einer Nacht, in der uns kein Licht schimmert. Wir lieben nur uns, weil wir nur uns spüren können und nur unsere eigenen Gedanken wirklich begreifen.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie fühlte seine Finger über ihre Haare streichen, sachte wie ein Luftzug. »Was verbindet uns schon mit anderen Menschen? Die flüchtige Berührung zweier Körper! Die leere Hülle der Wörter, abgehackter Laute, die das Namenlose, Ungreifbare in Form zu drücken versuchen, das in unserem Verstand und unserem Herzen

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