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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Sosehr sie auch versuchte, es zu verhindern, sie schaffte es nicht. Er hatte eine Verbindung zu ihr erzwungen, die keiner Worte bedurfte.
    »Du, Apolonia, musst begreifen, dass die Wahrheit wichtiger ist als jeder Einzelne von uns. Du musst einsehen, dass du eine Gabe hast, die du nicht leugnen kannst. Du musst eine von uns werden.«

Hilfe

    I ch muss verrückt sein, dass ich das hier tue, dachte Tigwid, während er ein Stückchen von dem Brot abzupfte und der Taube hinhielt. Die Taube plusterte sich auf und legte den grauen Kopf schief. Dann schnellte sie vor und schnappte sich das Brot aus Tigwids Fingern. Mit einem zufriedenen Flügelflattern hüpfte sie ein paar Schritte von ihm weg. Tigwid näherte sich ihr in der Hocke und riss noch ein Brotstück ab.
    Das Brot hatten sie mit dem Geld gekauft, das in der Tasche des Mantels gewesen war, den Vampa geklaut hatte. Tigwid war nie ein Dieb wie Vampa untergekommen. Er war schnurstracks auf einen Mann zugegangen und hatte ihm einen Kinnhaken verpasst, ohne seine beiden erschrockenen Begleiterinnen auch nur anzusehen. Während eine von ihnen in Ohnmacht fiel und die Zweite sie auffing, hatte Vampa den bewusstlosen Mann aus seinem Mantel gepellt und war mit der Beute davongestapft. Nun stand er hinter Tigwid, halb versunken in dem zu großen Kleidungsstück, unter dem er nur eine Hose trug, und beobachtete die Taube so gebannt, als erläutere sie ihnen den Sinn des Lebens. Tatsächlich pickte sie bloß Läuse aus ihren Brustfedern.
    »Komm schon…« Tigwid streckte ihr das Brot hin. Die Taube fuhr unbeirrt mit ihrer Körperpflege fort, beäugte Tigwid
- oder das Brot - aber mit vergnügter Gefälligkeit. Tigwid konzentrierte sich, so gut er konnte, auf den Geist der Taube. Er ertastete ihre Scheu und Neugier. Die Scheu galt ihm - die Neugier dem Brot.
    Apolonia . Er sandte ihr ein Bild von ihrem Gesicht. Es war nicht besonders gut gelungen, viel zu durchsichtig und ohne viele Details. Den Klang ihres Namens versuchte er diesmal nicht mitzuschicken, er wusste ja jetzt, was dabei rauskam. Wenn ein Hund Gabriel für Taubengurren und Kutschenrattern hielt, was würde die Taube dann aus Apolonia machen? Tigwid kam noch ein bisschen näher. Wenn er die Taube doch berühren könnte… Gedankensprechen gelang ihm fast nur, wenn er Körperkontakt hielt. Er war nun mal viel schlechter darin als Apolonia.
    Die Taube blinzelte. Mit vorsichtigen Schrittchen kam sie auf Tigwid zu. Dann schnappte sie das Brot aus seiner Hand und flatterte wieder ein Stück zurück.
    »Mistvieh«, murmelte Tigwid und verkrampfte die Hand. Dann streckte er ihr aber erneut einen Brotkrumen hin, damit sie nicht das Interesse verlor. »Apolonia. Du kennst sie doch! Alle Tiere kennen sie … Apolonia, das sprechende Mädchen! So alt wie ich, dunkle Haare, blaue Augen, fieser Charakter.« Er biss sich auf die Unterlippe. Bloß keine negativen Gedanken! Womöglich empfing die Taube etwas davon und erschrak. Oder griff an. Das hatten bis jetzt schon vier Marder und eine Amsel getan, mit denen Tigwid zu sprechen versucht hatte. Er war jedes Mal nur mit Mühe davongekommen und hatte einmal verhindern müssen, dass Vampa einem Marder den Hals umdrehte.
    »Du hasst den Marder doch«, hatte Vampa gesagt, als Tigwid eingeschritten war.
    »Nein«, hatte er verblüfft erwidert. »Das ist ein Tier. Ich kann nicht mal richtig mit ihm sprechen, wie soll ich es da
hassen?« Daraufhin hatte Vampa den Marder behutsam abgesetzt und gewartet, bis der Marder von selbst beschloss, sich nicht mehr in seinen Arm zu verbeißen.
    »Bitte…« Tigwid öffnete die Hand und zerbröselte das Brot in immer kleinere Krümel. Die Taube guckte ihn jetzt mitleidvoll an. Dann trippelte sie langsam auf ihn zu und pickte die Krümel aus seiner Hand. Ihr Fuß berührte Tigwids Daumen. Endlich! Schnell sammelte er seine Kräfte, konzentrierte sich auf seine Bilder, Gefühle und Gedanken.
    Apolonias Gesicht. Ihr Kinn, wie es beleidigt vorgeschoben ist. Nein, ihr Kinn, wenn sie lächelt, mit den Grübchen. Die Nase. Mit der kleinen samtigen Rille in der Spitze. Die Augen mit den Schatten ringsum. Die dunklen Wimpern, nass im Schnee … Der kleine volle Mund, der geschwungene Bogen der Oberlippe, die flüchtig sichtbaren Zähne… Wo ist sie? Wo?
    Die Taube hatte den letzten Brotkrumen verschlungen und flatterte auf den Ast eines Ahornbaums, der an der Straße stand. Mit knirschenden Zähnen stand Tigwid auf.
    »Was ist? Hat es funktioniert?«,

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