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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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verborgen liegt… Was wäre die Welt, wenn es keine Sprache gäbe, sondern nur Wahrheit! Reine, klare, unverschlüsselte Wahrheit! Wenn wir fühlen könnten - nicht hören -, was andere fühlen. Wenn wir die Liebe fühlen könnten - nicht erklärt bekämen -, die andere in sich tragen! Dann würden wir wahrlich lieben, die Liebe würde die Fesseln sprengen, mit denen das Herz in seine eigene Brust gekettet ist. Du fühlst nicht meine Traurigkeit, wenn ich dir sage, dass ich traurig bin. Trauer, Hass, Liebe, Glück, all die komplexen, faszinierenden Wirbelstürme aus Licht und Schatten, die im Wesen unserer Seelen fließen, sind nicht zu beschreiben, man kann sie nur fühlen. Könntest du fühlen, Apolonia, was ich gerade empfinde, könnte ich dir meine Gedanken schenken. Und genau das will ich. Ich will den Menschen wahres Verständnis geben! Ich will der Heuchelei ein Ende setzen, dass Worte ausreichen könnten, um jemanden zu lieben. Ich schenke den Menschen ein zweites Herz! Sie lesen meine Bücher und spüren die Seele hinter der Sprache wie ihre eigene! Sie lernen das erste Mal im Leben jemanden wirklich lieben! Sie lernen, wie ein anderer Mensch zu denken. Sie lernen, aus ihrem eigenen Ich zu schlüpfen. Welches Buch hast du von mir gelesen, Apolonia?«

    Sie schluckte schwer. Am liebsten hätte sie nicht geantwortet, doch ein Teil von ihr wollte, dass Morbus weitersprach - eine morbide Neugier, die sich nicht darum scherte, wie sie später mit der Wahrheit umgehen musste. »Das Mädchen Johanna.«
    »Ah, das Mädchen Johanna. Sag, hast du sie verstanden wie dich selbst? War es dieselbe süße, bittere Selbstliebe, die dein Herz für sie hat schlagen lassen, als du ihre Geschichte gelesen hast, die du bis dahin nur für dich empfinden konntest?«
    Apolonia presste die Lippen zusammen, damit er nicht sah, wie sehr sie zitterten. Doch Morbus nickte zufrieden. »Meine Mottengabe ist der Segen der Menschheit. Ich stehe in der Finsternis der blinden Masse und um mich will jeder mit Worten beschreiben, wie sein Gesicht aussieht. Ich stehe dort, im Dunkeln, und trage eine Laterne mit mir. Ich bringe der Menschheit das Licht, auf dass kein Wort mehr gebrüllt, kein Laut mehr geächzt werden muss, um das zu erklären, was man nicht beschreiben, nur erleben kann! Gefühle! Gefühle, die sich in keine Worte zwingen lassen!
    Menschen verlieren ihre Vergangenheit für meine Bücher, ja. Das stimmt. Aber werden sie nicht tausendfach entlohnt? Ihre Geschichten sind eingesperrt im Dunkel ihrer Schädel, wo niemand sie je erleben kann, bis ich sie hervorbringe! Bis ich sie herausschreibe… Und was geschieht dann! Ihre Geschichten zerspringen in Millionen Funken und lassen sich in jedem Herzen nieder, das auf dieser Erde schlägt! Auch du, Apolonia, trägst einen Funken von dem Mädchen Johanna in dir. Kein Mensch war dir je so nahe wie sie, eine Buchfigur! Sie wurde geopfert, damit das Ich von Hunderten, von Tausenden wächst! Und auch dein Herz ist durch ihre Opferung größer geworden, denn du hast das erste Mal in deinem Leben einen anderen Menschen wahrhaftig geliebt.« Eine Ader
pochte an seiner Stirn. Er lächelte und seine erschreckenden Augen schimmerten vor Tränen.
    »Sie sind verrückt«, flüsterte Apolonia.
    Er blinzelte. » Ich bin verrückt? Das wagst du zu sagen, zu mir, dem Einzigen, der unter all den selbstsüchtigen Menschen nicht selbstsüchtig ist?«
    »Sie tun es nicht aus Nächstenliebe! Sie tun es, weil Sie aus tiefstem Herzen böse sind, und Ihre Bosheit gebietet Ihnen, andere Menschen in Ihre Bücher zu schließen! Mehr - mehr ist es nicht.«
    »Einzelne müssen geopfert werden, damit die Masse profitiert. Im Leben ist nichts umsonst. Aber manchmal wiegt das Ergebnis mehr als die Entbehrung. Ich will nur die Welt gerechter machen. Tausende Menschen können sich dank meiner an den Erinnerungen erfreuen, die ohne meine Bücher nur einem Einzigen gehört hätten. Das ist die Mission der Dichter. Der Menschheit, die in der Finsternis durcheinanderbrüllt und sich doch nie versteht, das Licht zu bringen. Den Menschen die Gesichter der anderen zu zeigen. Wir geben ihnen eine Laterne in die Hand.«
    Apolonia schüttelte verwirrt den Kopf. Alles, was er sagte, war so verwirrend. Sie wusste nicht mehr, ob er böse oder gut oder beides und verrückt war. »Wozu brauchen Sie dann mich?«
    Morbus sah sie an. Das Grün seiner Augen durchdrang sie, schlüpfte durch jeden Gedanken, jedes Geheimnis ihres Verstandes.

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