Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
Dann hätte ich jetzt ohne diese übertriebene Diskretion ermitteln können.
„Irgendwelche Treffer bei der Fahrerlaubnis?“
„Sie scheint keine zu haben.“
„Schon bei der Einwanderungsbehörde nachgefragt?“, fragte Pete.
„Nein.“ Ich kam mir vor wie eine Anfängerin.
Pete legte die Lupe hin und packte den abgetrennten Finger wieder zurück in den entsprechenden Pappkarton. „Wenn sie weder eine Fahrerlaubnis noch irgendwelche Straftaten oder Verkehrsverstöße aufzuweisen hat, deutet das meist auf Einwanderer hin – legal oder illegal. Mal sehen, ob sie ein Visum bekommen hat.“ Er führte mich zu einem der zahlreichen Computer, klickte auf zwei Icons, und im Handumdrehen erschien auf dem Bildschirm die Datenbank der Zoll- und Einwanderungsbehörde des Heimatschutzministeriums. Über die Suchmaske ließ Pete die Immigranten anzeigen, die über Nocturne City ins Land gekommen waren. „Marina“, brummte er. „Kein sehr verbreiteter Name. Osteuropäisch vielleicht.“
„Russisch?“, warf ich ein und fühlte eine unangenehme Vorahnung in meinem Hinterkopf aufsteigen. Lilia Desko, Dmitri Sandovsky, Marina …
„Ist einen Versuch wert“, stimmte Pete zu. Er schränkte die Suche auf russische Staatsangehörige ein. „Nichts. Kein Treffer in den letzten sechs Monaten“, sagte er. „Wenn es keine anderen Akten über sie gibt, ist sie wahrscheinlich gerade erst angekommen.“
„Oder sie ist illegal hier und benutzt einen falschen Namen“, wandte ich ein.
„In diesem Fall wissen Sie selber am besten, wo Sie suchen müssen. Ich bin nur für die Identifizierung der Leute zuständig, nicht für das Aufstöbern.“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe und schien nachzudenken. „Lassen Sie es uns mal mit einer breiter angelegten Abfrage versuchen.“
„Was meinen Sie damit?“
„Eine Suche, die neben Russland auch all die früheren Mitgliedsstaaten der Sowjetunion einschließt. Die Namen und Dialekte sind manchmal trotz unterschiedlicher Staatsangehörigkeit nicht auseinanderzuhalten.“
„Okay, versuchen wir’s“, sagte ich zu Pete. Er füllte die Suchmaske aus und klickte auf die blinkende Schaltfläche. Nachdem der Bildschirm kurz schwarz geworden war, erschien ein einzelner Eintrag. „Bingo!“, rief Pete. „Marina Narinovich aus der Ukraine. Hat vor zwei Monaten ein befristetes Arbeitsvisum beantragt.“
Ich hätte Pete küssen können. „Adresse?“
„Eine Sekunde“, meinte Pete und ließ gleich darauf resigniert die Schultern hängen. „Ich befürchte, das wird Ihnen nicht viel helfen, Detective. Die Adresse gibt es nicht.“
„Na super. So ein Mist“, sagte ich. „Wie konnten die bei der Behörde ihr das überhaupt durchgehen lassen, eine nicht existierende Adresse anzugeben?“
„So ist das nun mal, die Leute schlüpfen durch die Lücken im System, Detective“, erklärte Pete. „Wenn es nicht so wäre, hätte ich keinen Job.“
Die Parkuhr, an der mein Wagen stand, war abgelaufen, und als ich mich hinters Steuer setzte, sah ich ein rosafarbenes Ticket fröhlich unter meinem Scheibenwischer flattern. So viel also zum Thema Zusammenhalt unter Polizisten – verdammt! Ich griff das Knöllchen und stopfte es ins Handschuhfach. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu beruhigen und nicht den erstbesten Fußgänger über den Haufen zu fahren. Als der Motor lossurrte, stürzte ich mich in den Verkehr. Ein totes Mädchen, ein vermisster Mann und dazu noch die Streiterei mit Sunny zu Hause … es versprach, eine wirklich fantastische Nacht zu werden.
Als ich unser Häuschen erreichte, brannte im unteren Stockwerk kein Licht mehr. Dafür grüßte mich der Mond, der knapp über dem Ozean am Horizont hing. Für eine Minute stand ich in seinem silberfarbenen Licht und fühlte das kühle Kribbeln auf meiner Haut – die Wölfin in mir reagierte auf den Ruf des Nachtgestirns.
Noch fünf Tage bis zum Vollmond. Ich zitterte bei dem Gedanken an Sandovsky. Wie würde er wohl sein, wenn der Mond am hellsten war? Furcht einflößend und überwältigend zugleich, wahrscheinlich. Nein – diesen Gedanken konnte ich mich jetzt nicht hingeben.
Ich öffnete behutsam die Eingangstür, legte meine Pistole vorsichtig in die Lade und stellte meine Schuhe beiseite. „Sunny?“
Keine Antwort. Ich ging die Treppe hinauf und hörte sanfte Harfenmusik hinter ihrer Tür. Ich klopfte. „Sunny? Können wir kurz reden?“
Die Musik verstummte, und nach einer langen Sekunde machte Sunny die
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