Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
junger Schwarzer, den ich mir auch gut in einer TV-Werbung oder einem Tausend-Dollar-Anzug und einem Managerjob im Mainline-Viertel hätte vorstellen können. Stattdessen trug er aber einen weißen Kittel über einem Led-Zeppelin-Shirt und eine Kakihose, deren Saum mit Flecken übersät war. „Ich erinnere mich an Sie“, fuhr er fort. „Was verschafft mit die Ehre Ihres Besuchs?“
„Nun, eigentlich geht es um einen Entführungsfall“, begann ich.
„Ich dachte, Sie sind beim Morddezernat?“ Er zuckte mit den Schultern und meinte dann lapidar: „Egal, da kommt sowieso keiner mehr mit. Was dagegen, wenn ich weiterarbeite, während wir uns unterhalten?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder zu den Karteikarten um und griff nach einer Lupe.
„Was machen Sie hier eigentlich?“, fragte ich ihn. „Arbeiten Sie denn nicht mit AFIS zur automatisierten Identifizierung von Fingerabdrücken?“
„Wir vergleichen“, antwortete Pete und zeigte auf ein gelblich braunes, vertrocknetes Stöckchen in einem transparenten Beweisbeutel. „Wenn ein Fall vierzig Jahre zurückliegt und es nicht um prominente oder einflussreiche Leute ging, bringt uns AFIS nicht weiter. Die meisten ungelösten Fälle vor 1970 sind sowieso nie in das System eingepflegt worden.“
Zuerst dachte ich, dass das Stöckchen ein getrockneter Pflanzenstängel oder so etwas in der Art war. Erst nach ein paar Sekunden fiel mir auf, dass es ein Finger war.
„Verdammt. Wo stammt der denn her?“
„Von einer 1962 als vermisst gemeldeten Frau“, erklärte Pete. „Polnische Einwanderin. Hat in einer Wäscherei in Waterfront gearbeitet. Ich hab mir sagen lassen, dass sie anscheinend eine hübsche junge Frau gewesen ist. Eines Nachts ist sie auf dem Heimweg verschwunden. Letztes Jahr hat die Stadt eines dieser baufälligen Gebäude an der Bay abreißen lassen und sie gefunden – eingemauert im Badezimmer.“
„Traurige Geschichte“, meinte ich.
„Nicht so traurig wie die Tatsache, dass vom Winter ’61 bis zum Frühjahr ’62 noch fünf weitere Frauen im gleichen Alter in dieser Gegend verschwunden sind“, erwiderte Pete.
Ich hob die Augenbrauen. „Ein Serienmörder?“
„Ganz bestimmt“, erwiderte er. „Die trotteligen Detectives dachten damals wahrscheinlich, dass man sich um ein paar verschwundene Polinnen nicht zu kümmern braucht.“
„Das war noch vor Zodiac und vor Ted Bundy“, sagte ich. „Die meisten Cops würden auch heute einen Serienmörder noch nicht mal dann erkennen, wenn er ihnen in den Hintern beißt. Man muss also etwas Nachsicht mit den Kollegen von damals haben.“
„Nachsicht haben? Etwa so, wie dieser Perversling Nachsicht mit der Polin gehabt hat?“ Pete zeigte auf den Finger. „Er hat sie ausgezogen, ihren Finger mit einer Kneifzange abgetrennt und sie wie eine Puppe hingelegt. Sie muss eine unglaubliche Todesangst ausgestanden haben.“ Als er merkte, dass seine Stimme lauter und aufgeregter geworden war, fing er sich wieder und seufzte. „Ich versuche nur herauszufinden, wer sie ist. Vielleicht kann ich dann die Angehörigen benachrichtigen, wenn sie welche hatte.“ Er stellte die Karteikarten beiseite und wischte sich den Staub von den Händen. „Auf jeden Fall passt Ihr Entführungsfall genau in mein momentanes Arbeitsgebiet, wie Sie sehen können. Also erzählen Sie mal.“
„Weißer, männlich, Ende zwanzig“, sagte ich. „Ging mit einer Frau namens Marina ins Mikados. Seitdem ist er verschwunden. Ich habe allerdings nur den Namen.“
„Hmm. Ist er mit dem Auto gefahren?“
„Ja. Ein Mercedes“, antwortete ich.
Pete begann in einem neuen Stapel Karteikarten zu blättern. „Prüfen Sie das Nummernschild. Vielleicht wurde der Wagen als gestohlen gemeldet oder ist verlassen aufgefunden worden. Probieren Sie mal, sich Zugang zu Telematik-Systemen wie OnStar zu verschaffen. Oder versuchen Sie es mit Lojack oder einem anderen System zum Wiederauffinden gestohlener Autos – hilft bestimmt weiter.“
„Hmm. Das wird nicht funktionieren“, brummte ich und fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde. Pete hatte natürlich absolut recht mit seinen Hinweisen, aber ich konnte keine Namen nennen und auch keine Nummernschilder, die auf die Halter zurückzuführen wären. Wenn ich nur nicht zum absoluten Stillschweigen verpflichtet worden wäre, hätte ich Stephen Duncan mit Petes Hilfe schon längst gefunden. Roenberg und McAllister hätten sich für mich starkmachen müssen, verdammt!
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